Der Liebhaber meines Mannes
achtlos weiter und überließ es mir, zu der notleidenden Frau zu eilen.
Als ich bei ihr war, saß sie schon auf der Bordkante, deshalb wusste ich, dass sie nicht ernsthaft verletzt war. Sie sah aus, als wäre sie in den Vierzigern, und ihr Korb und die Lenkstange waren schwer mit Taschen aller Art beladen – Netz, Papier, ein Behältnis aus Canvas –, deshalb war es nicht verwunderlich, dass sie das Gleichgewicht verloren hatte. Ich berührte ihre Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Wonach sieht es aus?«, bellte sie. Ich trat einen Schritt zurück. Ihre Stimme war hasserfüllt.
»Natürlich haben Sie einen Schock.«
»Eine Stinkwut habe ich. Der Scheißkerl hat mich runtergestoßen.«
Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Ihre Brille hing auf einer Seite, ihr Hut saß schief.
»Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?«
Sie verzog den Mund. »Wir müssen die Polizei holen. Wir brauchen die Polizei, sofort!«
Da ich merkte, dass ich keine Wahl hatte und mich ihren Wünschen fügen musste, rannte ich zum nächsten Polizeihäuschen Ecke Bloomsbury Place. Ich dachte, ich könnte von dort aus anrufen, sie bei einem diensthabenden Verkehrspolizisten lassen und den Rest des Tages weitermachen wie geplant.
Ich habe nie viel Geduld mit unseren Jungs in Blau gehabt. Habe immer ihre brutale Art verachtet, ihre stämmigen Körper, die in dicke Wolle gezwängt sind, die lächerlichen Helme, die auf ihre Köpfe gestülpt sind wie schwarze Marmeladengläser.
Was sagte doch ein Polizist über den Vorfall im Napoleon, wo ein Junge mit einer bis auf die Knochen aufgeschnittenen Gesichtshälfte zurückgelassen wurde? »Die verdammte Schwuchtel kann froh sein, dass sie nicht mehr abgeschnitten haben.« Ich glaube, das waren genau seine Worte.
Deshalb war mir der Gedanke, einem Polizisten gegenüberzutreten, nicht angenehm. Ich wappnete mich für den abschätzenden Blick von oben bis unten, die hochgezogenen Augenbrauen als Reaktion auf meine Stimme. Die geballten Fäuste als Reaktion auf mein Lächeln. Der frostige Umgang als Reaktion
auf meine Nasenspitze.
Aber der junge Mann, der aus dem Häuschen trat, war ganz, ganz anders. Ich sah es sofort. Zuerst einmal war er richtig groß, mit Schultern, die aussahen, als könnten sie das Gewicht der ganzen Welt tragen, und trotzdem waren sie wohlgeformt. Kein bisschen massig. Ich dachte sofort an den wunderbaren griechischen Jungen mit dem abgebrochenen Arm im British Museum. Wie er vor Schönheit und Kraft strahlt, die Wärme des Mittelmeers ausstrahlt (und trotzdem perfekt in die britische Umgebung passt!). Dieser Junge war genauso. Die schreckliche Uniform konnte ihmnichts anhaben, unter dem rauen schwarzen Wollstoff der Jacke pulsierte das volle Leben. Ich sah es sofort.
Wir sahen uns ganz kurz an, er mit ernster Miene, ich völlig sprachlos.
»Guten Morgen«, sagte er, während ich versuchte mich zu erinnern, was ich wollte. Warum ich überhaupt einen Polizisten ausfindig gemacht hatte.
Schließlich stammelte ich: »Ich brauche Ihre Hilfe, Officer.«
Das waren genau meine Worte. Und Gott weiß, ich meinte es genau so. Ich flehte um Hilfe, wollte beschützt werden. Jetzt erinnert es mich daran, wie Charlie und ich in der Schule Freunde wurden. Ich ging aus Verzweiflung zu ihm, weil ich dachte, er könnte mir helfen, der Schikane ein Ende zu machen. Und er lehrte mich, es nicht so schwer zu nehmen. Charlie hatte immer so eine lässige Art, die alle veranlasste, sich zurückzuhalten – etwas wie »leck mich am Arsch«, wie er es ausdrücken würde – das habe ich immer gemocht. Mochte es und wünschte, ich könnte auch so sein.
»Es gab einen Unfall«, fuhr ich fort. »Eine Dame ist vom Fahrrad gefallen. Ich bin sicher, es ist nichts Ernstes, aber –«
»Zeigen Sie mir den Weg.« Trotz seiner Jugend klang er kompetent. Und er ging äußerst energisch und entschlossen, runzelte jetzt leicht die Stirn und stellte mir alle notwendigen Fragen – war ich der einzige Zeuge? Was hatte ich gesehen? Welche Marke war das Auto? Hatte ich einen Blick auf den Fahrer werfen können? Während ich seinen großen Schritten folgte, antwortete ich, so gut ich konnte, denn ich wollte ihm alle Informationen liefern, die er brauchte.
Als wir bei der Frau ankamen, saß sie noch immer auf dem Gehsteig, aber ich bemerkte, dass sie wieder genug Kraft hatte, um ihre Taschen um sich zu sammeln. Sobald sie meinen Polizisten sah, änderte sich ihr Verhalten vollkommen. Plötzlich
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