Der Liebhaber meines Mannes
darauf bestanden, obwohl es nicht üblich war. Seine Augen waren groß und blickten ernst; seine Haut schimmerte. Ich stellte mir vor, wie er den Turban abwickelt und seine Haare wieeine schwarze Schlange zum Vorschein kommen, und Victoria – in den Fünfzigern, eingezwängt in Korsetts, die eigenen Haare so straff zusammengebunden, dass ihre Augen schmerzen mussten –, die ihn beobachtet und sich danach sehnt, es zu berühren. Er sah aus wie ein schönes Mädchen, der Junge. Kein Wunder, dass Bärte und Schwerter es ihnen angetan hatten, dachte ich.
Obwohl mir das Zimmer unglaublich frivol erschien, es grenzte ans Unmoralische – all die Elefantenstoßzähne, nur zum Vergnügen einer Königin mit einer Vorliebe fürs Exotische –, verstand ich, was du gemeint hast, als du die Kühnheit gelobt hast, die »fantastisch sinnlose Schönheit«, wie du dich ausgedrückt hast. Tatsächlich hatte mich der Ort so gefangen genommen, dass ich nicht bemerkte, wie du und Tom aus dem Zimmer geschlüpft seid. Als ich aufsah, nachdem ich eine weitere Stickerei aus Millionen Goldfäden betrachtet hatte, wart ihr beide nirgendwo zu sehen.
Dann sah ich deine rote Krawatte kurz draußen zwischen den Hecken aufblitzen. Unser Führer hatte begonnen, die Gruppe darauf vorzubereiten, das Zimmer zu verlassen, aber ich blieb zurück, hielt mich in der Nähe des Fensters auf. Ich sah jetzt Tom, die Hände in den Taschen, halb von einem hohen Busch verdeckt. Du standest ihm gegenüber. Keiner von euch lächelte oder sagte etwas; ihr habt euch nur angesehen, so durchdringend, wie ich das Foto des indischen Jungen angesehen hatte. Eure Körper nah beieinander habt ihr euch unverwandt in die Augen geblickt, und als deine Hand auf Toms Oberarm fiel, sah ich, wie mein Mann für einen Moment die Augen schloss und sein Mund sich unwillkürlich öffnete.
LETZTE NACHT, WÄHREND du schliefst, blieb ich wach in der Hoffnung, ich könnte mit Tom reden. Das bedeutete eine Störung unserer üblichen Routine, an die wir uns halten, seitdem wir beide in Rente sind, und die folgendermaßen abläuft: Jeden Abend bereite ich ein eher langweiliges Essen, nicht wie die Festessen, die du uns immer geboten hast: ofenfertige Lasagne, Hühnerpastete oder ein paar Würstchen vom Schlachter in Peacehaven, der es irgendwie fertigbringt, zugleich mürrisch und servil zu sein. Wir essen am Küchentisch, führen vielleicht ein kurzes Gespräch über den Hund oder die Nachrichten. Anschließend wasche ich ab, während Tom mit Walter einen letzten Spaziergang um den Block macht. Dann sehen wir ungefähr eine Stunde fern. Tom kauft jede Woche die »Radio Times« und markiert die Sendungen, die er nicht verpassen will, mit einem gelben Textmarker. Wir haben eine Satellitenschüssel, sodass er den History Channel und National Geographic bekommt.
Während Tom noch eine Dokumentation über Polarbären sieht, wie Caesar sein Reich aufgebaut hat oder Al Capone, lese ich für gewöhnlich die Zeitung oder fülle das Kreuzworträtsel aus. Spätestens um zehn ziehe ich mich zurück, während er noch mindestens zwei Stunden fernsieht.
Wie du gemerkt haben wirst, lässt diese Routine kaum ein echtes Gespräch oder irgendeine Abweichung zu. Ich glaube, sie hat auch etwas Beruhigendes für uns beide, für Tom wie für mich.
Seitdem du bei uns bist, sorge ich dafür, dass du dein Essen bekommst, bevor Tom und ich essen. Ich füttere dich mit einem Löffel,um Missgeschicke zu vermeiden. Und obwohl du im Bett im Zimmer am Ende des Flurs bist, sprechen wir nicht über deine Anwesenheit.
Aber in letzter Zeit habe ich mir angewöhnt, bei dir zu sitzen, während mein Mann fernsieht. Tom hat nichts dazu gesagt, aber ich sitze lieber an deinem Bett und lese laut vor, statt mit ihm im Wohnzimmer zu sitzen. Wir lesen gerade mit Vergnügen »Anna Karenina«. Du kannst zwar immer noch nicht sprechen, aber ich weiß, dass du jedes Wort verstehst, Patrick, und nicht nur, weil du den Roman zweifellos sehr gut kennst. Ich sehe, dass du die Augen schließt und den Rhythmus der Sätze genießt. Dein Gesicht wird ganz ruhig, deine Schultern entspannen sich und das einzige Geräusch, abgesehen von meiner Stimme, ist das regelmäßige Gemurmel des Fernsehers aus dem Wohnzimmer. Ich habe Tolstois Verständnis der weiblichen Psyche immer bemerkenswert gefunden. Gestern Abend las ich einen meiner Lieblingsabschnitte: Dollys Reflexionen über die Leiden von Schwangerschaft und Geburt.
Weitere Kostenlose Bücher