Der Lilienpakt
Südseite des Schlosses. Hier waren Antoine und ich oft entlanggehuscht, wenn wir Verstecken spielten. Wenn wir gefunden wurden, hatte es Antoine meist auf sich genommen, zu suchen, während ich verschont blieb.
Und nun hatte er sein Leben für mich gegeben …
Plötzlich bemerkte ich ein Hindernis im Gang. Erschrocken blieb ich stehen.
»Wir sollten vielleicht einen anderen Weg nehmen«, schlug Jules beklommen vor, doch ich schüttelte den Kopf und trat näher.
Die Frau trug einen grünen Kambrikrock und ein schwarzes Leibchen über dem Hemd. Ihr langes, blondes Haar war blutverschmiert.
Julie.
Offenbar hatte sie versucht in die Waschküche zu fliehen. Die Degen der Angreifer hatten sie zweimal durchbohrt.
Ich hockte mich neben sie und strich über ihr Haar. Tränen rannen über meine Wangen, als ich sie vorsichtig herumdrehte.
»Wer ist das?«, fragte Jules hinter mir.
Ich drückte ihr vorsichtig die entsetzt geweiteten Augen zu.
»Sie sieht Euch sehr ähnlich …«
Jules’ Worte trafen mich wie ein Peitschenhieb. Man könnte Julie tatsächlich leicht für mich halten. Mir graute vor mir selbst, aber ich wusste, ich hatte keine andere Wahl, um die Schwarze Lilie zu täuschen.
»Das ist die Comtesse d’Autreville.«
Jules sah mich entsetzt an und bekreuzigte sich. »Ihr wollt doch nicht etwa …«
Ein Schluchzen unterdrückend streichelte ich erneut über Julies Haar. »Tragen wir sie in die Waschküche. Dort werde ich ihr meine Kleider anlegen.«
Natürlich zog ich nicht die Kleider der Toten an. Unter pochenden Kopfschmerzen und mit schlechtem Gewissen huschte ich in mein Gemach und legte dort die Kleider an, die ich immer unter dem Fechtrock trug. Dann kehrte ich in die Waschküche zurück. Julie lag neben dem Küchentisch, wo wir sie abgelegt hatten. Jules kniete neben ihr und murmelte immer wieder ein Gebet. Er war kreidebleich um die Nase.
»Vielleicht solltest du jetzt besser hinausgehen. Es sei denn, du schämst dich nicht, eine Tote umzuziehen.«
Jules war es genauso unangenehm wie mir. Trotzdem sagte er: »Ich werde dir helfen.«
Gemeinsam entkleideten wir Julie. Ich war froh, Jules bei mir zu haben, denn meine Hände zitterten ganz furchtbar. Selbstekel mischte sich mit Trauer und Zorn auf die Mörder. »Bitte verzeih mir, Julie«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich die Schnürung ihres Mieders öffnete. Das Grauen würgte mich. Doch dann sagte ich mir, dass dies die einzige Möglichkeit für mich sein würde, unentdeckt weiterzuleben. Und die Mörder zu finden.
»Ich werde dafür sorgen, dass sie bestraft werden, Julie, das schwöre ich dir und allen anderen.« Dann sagte ich an Jules gewandt: »Bringen wir sie dorthin zurück, wo wir sie gefunden haben.« Ich seufzte schwer, dann ergriff ich Julies Beine. Jules fasste sie unter den Armen, und gemeinsam schleppten wir sie zurück in den Bogengang.
Nachdem wir sie dort abgelegt hatten, wurde mir die Luft auf einmal so knapp, dass mir schwindelig wurde.
»Alles in Ordnung mit Euch?«
Jules war zur Stelle und hielt mich bei den Armen fest, denn er hatte gesehen, dass ich schwankte. Ich kämpfte gegen das Gefühl, zu ersticken, an, doch es gelang mir nicht. Die Luft, die ich einatmete, schien nicht in meinem Körper anzukommen.
Auf einmal war es mir, als würde etwas in mir reißen. Ich musste hier weg! Mit letzter Kraft riss ich mich von Jules los und rannte zu der kleinen Treppe.
»Christine, was ist Euch?«, rief Jules hinter mir her. Ich wandte mich weder um noch blieb ich stehen. Ich huschte auf zittrigen Beinen die Treppe hinunter, dann rannte ich schluchzend zu den Lauben.
Vom Winter übrig gebliebenes vertrocknetes Gras peitschte meine Waden. Als ich in den Laubengang einbog, schlugen mir kleine Zweige ins Gesicht. Ich spürte es nicht. Schließlich ließen mich meine Beine im Stich. Ich fiel auf die Knie, krallte meine Hände ins Gras und schrie meine Verzweiflung hinaus. Tauben flatterten auf, ihre Flügelschläge klangen hart in meinen Ohren. Doch schon bald wurde dieser Klang von einem pulsierenden Rauschen abgelöst. Meine Schreie gingen in Weinen über. Die Tränen liefen über meine Wangen, dann über meinen Hals. Sie tränkten den Kragen meines Hemdes und drangen bis zu meiner Brust vor.
Jules trat hinter mich, doch das bekam ich zunächst nicht mit. Ich weinte nur, riss Grassoden aus und grub meine Finger in die Erde.
Warum, Gott, hast du mir meine Familie genommen? Warum hast du diese Reiter nicht mit
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