Der Lilienpakt
einem Blitz getötet?
Ich weinte mich heiser, schluchzte schließlich nur noch. Meine Kehle schmerzte, während mein Rücken erbebte. Da spürte ich Jules’ Hand auf meiner Schulter. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er neben mir niedergekniet war.
»Bitte beruhigt Euch wieder, Christine. Sonst wird Euch noch das Herz stehen bleiben.«
Und wenn schon!, wäre es beinahe aus mir herausgeplatzt. Doch es gab nur einen Menschen, der für die Aufklärung dieses Verbrechens sorgen konnte. Mich. Also rappelte ich mich wieder auf und setzte mich ins Gras. Meine Augen brannten furchtbar, und das Sonnenlicht, das durch die Zweige der Laube brach, tat ihnen weh. Meine Wangen pochten, als sei ich geohrfeigt worden.
Jules setzte sich neben mich und streichelte meinen Arm. Seine Berührung und sein Schweigen trösteten mich mehr, als es alle Worte vermocht hätten.
»Wir sollten wieder ins Schloss zurückkehren«, sagte er schließlich. »Mein Vater könnte jeden Augenblick zurückkommen. Wenn Eure Maskerade gelingen soll, darf niemand Euch sehen.«
Damit hatte er recht. Seufzend öffnete ich die Augen und stand auf. Obwohl ich schwankte, ließ ich nicht zu, dass Jules mich stützte.
»Es geht schon, du brauchst mich nicht zu halten, als wäre ich eine Greisin.«
Jules zog sich zurück und senkte verlegen den Kopf. Es tat mir leid, dass ich ihn so angefahren hatte, aber helfen lassen wollte ich mir trotzdem nicht. Da wir so oder so an Toten vorbeikommen würden, wählte ich den Weg durch den Bogengang, wobei ich versuchte, Julie so gut wie möglich zu ignorieren. Was ich ihr antat, indem ich sie unter falschem Namen begraben ließ, beschämte mich. Aber ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich sie irgendwann im Jenseits wiedersah, würde ich mich bei ihr entschuldigen.
8
Als die Abenddämmerung heraufzog, stand ich neben dem Fenster des Bergfrieds und beobachtete die Menschenmenge, die sich auf dem Schlosshof um die Särge scharte. Der Dorftischler hatte sie eilig zusammengezimmert und schaffte nun einen nach dem anderen herbei, damit die Toten zur Ruhe gebettet werden konnten.
Das Weinen einiger Frauen drang an mein Ohr. Es waren Angehörige jener Bediensteten, die aus dem Dorf stammten. Ich selbst war wie betäubt. Obwohl die Trauer in mir tobte, konnte ich nicht mehr weinen.
Eigentlich war es bei Adelsfamilien Brauch, dass die Leichname ein paar Tage aufgebahrt und mit einem großen Gottesdienst beigesetzt wurden. Doch hier musste schnell gehandelt werden.
Père Hugo, der Dorfpfarrer, sprach seine Gebete, während die Särge meiner Eltern und meiner Brüder aus dem Schloss getragen wurden. Der letzte Sarg, den der Tischler gerade herankarrte, war für mich gedacht.
Der Anblick ließ mich erschaudern. Es war, als stünde der Tod hinter mir und bliese seinen kalten Hauch in meinen Nacken.
Ich hatte Monsieur Garos nach dessen Rückkehr von meinem Plan berichtet, und Jules hatte ihm gezeigt, wo Julies Leiche lag.
Die Konsequenzen waren mir bewusst. Durch das vermeintliche Erlöschen der Familie d’Autreville würden das Schloss und der Titel wieder der Krone anheimfallen, die ihn neu vergeben konnte. Doch das war mir gleichgültig. Sollte ich hier vielleicht allein hausen, stets bedroht von der Schwarzen Lilie?
Als ich Maître Nancy unter den Schaulustigen erblickte, krampfte sich etwas in mir zusammen. Er war ein strenger Lehrer gewesen, doch nie hatte er mich schlechter behandelt als meine Brüder. Hätte nicht wenigstens er die Wahrheit erfahren sollen?
Vor dem Sarg meines Vaters salutierte er mit seinem Degen, dann kniete er nieder und bekreuzigte sich. Minutenlang verharrte er in stiller Andacht.
Dann wurde der letzte Sarg herausgeschafft. Mein Sarg. Auch sein Deckel war verschlossen. Niemand aus dem Dorf würde erfahren, dass nicht ich darin lag. Der Tischlergehilfe, der die arme Julie in meinen Kleidern zur Ruhe gebettet hatte, hatte mich vorher noch nie gesehen.
Nancy, der zuvor vor den Särgen meiner Brüder gekniet hatte, trat nun an meinen Sarg und legte die Hand auf das Holz.
Weinte er etwa? Die Art, wie er seinen Kopf neigte und seine Schultern erbebten, ließ keinen anderen Schluss zu. Es brach mir beinahe das Herz, ihn so zu sehen.
»Verzeiht, Maître Nancy«, flüsterte ich gegen die Butzenscheibe, die so staubig war, dass man mich von außen nicht erkennen konnte. »Wenn sich mein Degen in das Herz des Capitan bohrt, werde ich an Euch denken. Vielleicht sehen wir uns eines Tages
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