Der Lilienpakt
Wahrscheinlich ist sie jetzt schon in England.«
»Dann werde ich nach England reisen. Und Ihr solltet mich begleiten.«
»Das wird, fürchte ich, unmöglich sein. Mein Amt verbietet es.«
»Zum Teufel mit Eurem Amt!«, erhob der Capitan seine Stimme. »Ihr habt wohl vergessen, was Euch versprochen wurde, wenn wir an die Macht kommen. Ihr werdet dann mehr haben als Euer läppisches Amt!«
»Aber so weit ist es noch nicht«, gab der andere seelenruhig zurück. »Und so lange werde ich meine Tarnung wohl aufrechterhalten müssen.«
Der Capitan schüttelte den Kopf. Seine Augen funkelten zornig, doch seine Stimme war gefährlich ruhig, als er sagte: »Ich fürchte, Ihr werdet etwas tun müssen, um abkömmlich zu sein. Ihr wisst, wie unser Herr ist. Ihr seid der Einzige, der das Mädchen gesehen hat, also wird er verlangen, dass Ihr mit mir nach England reist. Koste es, was es wolle!«
Der Kapuzenträger biss hörbar die Zähne zusammen. Zum ersten Mal wirkte er unsicher.
»Lasst uns darüber reden, wenn wir in Paris sind.«
»Ihr werdet darüber reden«, gab der Capitan zurück. »Mit unserem Herrn. Ich würde Euch aber raten, Euch auf dem Weg dorthin etwas auszudenken, das Euch von Euren Verpflichtungen loseist. Anderenfalls könnte Eure Ablehnung als Verrat aufgefasst werden, und Ihr wisst mittlerweile sicher, was das bedeutet.«
Der Mann nickte schweigend.
»Beseitigt die Unordnung!«, fuhr der Capitan seine Handlanger an und ignorierte ihre entsetzten Blicke, während er mit dem Kapuzenträger die Gruft verließ.
Der Winter kehrte in diesem Jahr früh in Paris ein. Bereits im Oktober gab es die ersten Nachtfröste, oftmals fiel das rote Laub von Eiskristallen geschmückt vom Baum. Der November brachte eisigen Nebel, der selbst den wärmsten Mantel zu durchdringen vermochte, und kaum hatte der Dezember begonnen, fiel der erste Schnee.
In dieser Zeit hing ich oft Tagträumen an mein Zuhause nach. Ich erinnerte mich noch gut an den Anblick des Schnees auf den Zinnen unseres Schlosses. Meine Brüder waren zu dieser Zeit oft zur Jagd geritten, um unseren Speiseplan mit Fasanen, Rehen und Rebhühnern zu bereichern. Im November hatten die Mägde die Gänse geschlachtet und gerupft. Wenn der Frost das Land heimsuchte, hatten mich meine Brüder manchmal zum See mitgenommen, um mit Eisschuhen aus Holland auf der zugefrorenen Oberfläche zu laufen. Bei unserer Rückkehr strömte uns der Duft von gebratenen Äpfeln, Vanille und Zimt entgegen. Mochten wir auch nicht zum reichen Adel gehören, diese Freuden gönnten wir uns.
Im Dezember begannen dann die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Von früh bis spät buk und kochte unsere Köchin ein, während der Räucherofen den Duft von geräuchertem Fisch und Gänsen auf dem Schlosshof verbreitete. Zu Weihnachten war es Brauch gewesen, dass unsere Familie ins Dorf ging und den Armen Speisen brachte. Das würde in diesem Jahr nicht geschehen.
Die Armen würden der Königin gleichgültig sein, und der Schnee würde über die Gruft meiner Familie einen Mantel des Vergessens breiten. Hatte d’Autreville schon einen neuen Herrn? Mir war nichts bekannt.
Die Suche nach der Schwarzen Lilie hatte mich mittlerweile ziemlich ernüchtert. Beinahe drei Monate diente ich Monsieur d’Athos nun schon, doch die Ergebnisse waren noch immer sehr mager. Mein Dienstherr war äußerst schweigsam. Manchmal besuchten ihn nachts Leute, mit denen er sich lange unterhielt, aus deren Worten ich beim Lauschen allerdings nicht schlau wurde. Manchmal verschwand Athos des Nachts auch und schloss mich im Haus ein.
Ich hätte ihm folgen können, denn mit einem Bettlaken konnte man leicht aus dem Fenster klettern. Doch Athos verschwand meist dann, wenn ich bereits schlief. Wenn ich es doch mitbekam, war er so schnell verschwunden, dass es sinnlos war, die Laken aus der Truhe zu holen.
Da seine nächtlichen Spaziergänge völlig zufällig stattfanden, konnte ich nicht einmal wach bleiben und darauf warten. Hin und wieder schickte er mich zum Roten Hahn, doch die Hoffnung, noch etwas Vernünftiges aus Amelie herauszubekommen, hatte ich aufgegeben. Die Schwarze Lilie schien die Schenke ihres Vaters mittlerweile zu meiden.
Auf den Straßen kursierten natürlich die wüstesten Geschichten über die Schwarze Lilie. Die Gerüchte über Kindesentführungen hielten sich hartnäckig. Außerdem sollten sie Menschenfleisch essen und ihren Körper verlassen können.
Ich glaubte kein Wort davon, denn ich
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