Der Lilienpakt
hatte gesehen, wie die wahren Grausamkeiten der Schwarzen Lilie aussahen. Mehr denn je sah ich ein, dass Monsieur Garos recht hatte: Die Schwarze Lilie war ein Bund von Phantomen, die niemand fassen konnte. Meine Hoffnung, über die Musketiere näher an diese Männer heranzukommen, war enttäuscht worden.
Mittlerweile fragte ich mich manchmal, ob es wirklich noch etwas brachte, die Mörder finden zu wollen. Die Königin wusste mittlerweile sicher Bescheid, unternahm jedoch nichts. Auf der Place de Grève wurden alle möglichen Verbrecher hingerichtet, aber nie waren es Mitglieder der Schwarzen Lilie. Das wäre gewiss Stadtgespräch gewesen. Doch was sollte ich tun? Wohin sollte ich? Wieder zurück auf mein Schloss und damit zugeben, dass ich noch lebte? Dann könnte ich mich gleich in meine Gruft legen.
An diesem eisigen Mittwochnachmittag eilte ich schneller als sonst durch die Stadt. Schon den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. Während ich zur Porte Saint-Germain lief, biss der Frost mit scharfen Zähnen in meine Wangen und riss mir die Lippen blutig. Mein Atem schien bereits in meiner Nase zu gefrieren. Tief kuschelte ich mich in den Umhang, den ich von Monsieur d’Athos bekommen hatte, doch der Wollstoff vermochte mich nicht zu wärmen.
Ich hätte im Haus, beim warmen Ofen, bleiben können, doch ich wollte das Treffen mit Jules nicht verpassen. Ich wusste von unserem letzten gemeinsamen Nachmittag, dass seine Mutter mit den Weihnachtsvorbereitungen begonnen hatte. Ein köstlicher Duft nach Gewürzen hatte in seinem Haar gehangen. Der Geruch der Schmiede war nur schwach gewesen, was daran lag, dass sein Vater im Augenblick nicht viel zu tun hatte. Im Winter, so schien es, zerbrachen nur wenige Waffen, und die Soldaten blieben in ihren Winterlagern. Duelle auf dem Le Prés du Clerks wurden seltener, nicht etwa weil die Beleidigungen abnahmen oder das Gemüt der Edelleute sich abkühlte, sondern weil es den Herrschaften schlichtweg zu kalt war. Auch Athos sah nach dem Ende seines Dienstes zu, dass er an die Esse kam, um sich aufzuwärmen.
Die Wiese war von Neuschnee bedeckt, in dem nur ein paar Hasen und Füchse ihre Spuren hinterlassen hatten. Der Platz unter dem Baum war leer. Insgeheim hatte ich gehofft, dass Jules schon da sein würde, doch offenbar hatte er sich noch nicht davonstehlen können. Ich folgte der Fährte eines Fuchses, die direkt zu dem Baum führte. Sie ging noch ein wenig weiter, doch ich machte an dem knorrigen Stamm halt. Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf die Stadtmauern. Von irgendwo dort musste Jules kommen.
Der Gedanke an ihn wärmte zumindest mein Herz. Über die Weihnachtszeit würde ich ihn wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekommen. Athos würde zwar wie immer in die Kaserne oder nach Saint-Germain gehen, aber Jules würde bei seiner Familie bleiben müssen. Wie sehr ich ihn doch vermissen würde! Mittlerweile war er mir ähnlich lieb wie Antoine, allerdings auf ganz andere Weise. Einer Weise, die mich verwirrte und gleichzeitig erhitzte. Oft dachte ich vor dem Einschlafen an ihn und verspürte eine nie gekannte Sehnsucht in meinem Inneren. Wie jetzt, wo ich zum Tor schaute und hoffte, dass er gleich hindurchkommen würde.
So warm es mir auch ums Herz war, meine Glieder wurden immer eisiger. Heute würde ich den Übungsdegen nicht führen können. Und auch die Zeit war begrenzt. Bei Anbruch der Dunkelheit musste ich zurück sein, um das Feuer in der Esse zu schüren und Wasser aufzusetzen. Außerdem schlossen die Stadttore um diese Jahreszeit recht früh. Die Chance, eine Nacht schutzlos in der Winterkälte zu überleben, war recht gering, zumal sich hier draußen auch Wölfe herumtrieben.
Schließlich passierte eine dunkle Gestalt das Tor. Ein grauer Mantel hüllte sie vollkommen ein. Zunächst bezweifelte ich, dass es Jules war, denn der Mann trug einen großen Schlapphut, den ich an ihm zuvor noch nie gesehen hatte. Doch als er winkte, hatte ich keine Zweifel mehr.
Ich lächelte und versuchte so, die Starre aus meinem Gesicht zu vertreiben, als ich ihm entgegenging.
»Da bist du ja!«, rief ich und schloss ihn in meine Arme. Zimtduft stieg mir in die Nase, gemischt mit dem Geruch nach Wolle und seiner warmen Haut. Ich hätte ihn am liebsten gar nicht mehr losgelassen.
»Wir werden uns eine Weile nicht mehr sehen können«, eröffnete er mir ein wenig niedergeschlagen. »Maman besteht darauf, dass ich während der Vorweihnachtszeit im Haus helfe.
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