Der Lilith Code - Thriller
seinem Fahrrad bewegen können. Doch diese Küche ließ ihn alles vergessen. War das Wohnzimmer ein Chaos, der Flur ein Strafgericht, herrschten in dieser Küche nahezu paradiesische Zustände. Nicht, dass sie aufgeräumt war, im Gegenteil, aber sie schien wunderbare kulinarische Schätze zu beherbergen. Wie in einem Delikatessenladen lagen Früchte, Gemüse und verschiedene Brotsorten auf Tischen und Fensterbrettern. Der Kühlschrank quoll über von Fleisch, frischem Fisch und Batterien an Champagner, Weißwein und Bier. Dann entdeckte Jan hinter einer kleinen Tür einen Erker. Er konnte kaum glauben, was er sah: Bis zur Decke stapelten sich Rotweinflaschen aus Italien und Frankreich.
Er fand in einer der unzähligen Dosen, die auf Regalen standen, wohlriechenden grünen Tee. Während der Wasserkochervor sich hin zischte, setzte sich Jan an den Tisch. Er hatte das früh im Studium gelernt. Wenn der Stress und die Anspannung zu viel wurden, konnte er sich einfach hinsetzen und langsam den Sturm in seinem Kopf beruhigen.
Draußen warf jemand Flaschen in einen Mülleimer. Dann herrschte wieder Stille. Jan war kein Profi wie die drei anderen, die vergangenen Tage hatten ihn völlig erschöpft. Je länger er darüber im Auto nachgedacht hatte, desto verzweifelter war er geworden. Die deutsche Polizei und mysteriöse, aber einflussreiche Kreise verfolgten sie. Mehrfach hatte er um sein Leben fürchten müssen, und er hatte sich verliebt. Er schloss die Augen. Ein neuer Abschnitt in seinem Leben hatte begonnen. Schon einmal hatte sich sein Leben verändert, als er das erste Mal mit einem Skalpell in den warmen, lebenden Leib eines Menschen geschnitten hatte. Er würde sich nun seiner neuen Aufgabe stellen. Der Gedanke beruhigte ihn. Wenige Minuten später servierte er den Tee mit englischen Keksen auf einem Tablett.
Ivan Pochs Vater hatte sich als jüdischer Rotarmist nach dem Krieg in eine SED-Funktionärin und Überlebende des KZ Sachsenhausen verliebt. Die ganz private, einst so »unverbrüchliche Freundschaft zum Bruderstaat UdSSR« hatte angesichts des erheblichen Alkoholkonsums und der haltlosen Sexualität des Vaters schnell Risse erhalten. Und so zog Esther Poch aus Brandenburg ihren Sohn allein groß, war traurig über die schon früh einsetzende Maßlosigkeit auch beim Sohn, die ihn von jeder Spartakiade ausschloss. Sie schickte ihn in ihrer tiefen Not in ein Heim der Partei nach Dresden. Dort verliebte sich ein SED-Bezirksleiter in den rosigen Burschen, der mit seinen dreizehn Jahren einem Barock-Putto glich. Die Liaison flog nie auf, und mit der Karriere des Liebhabers glitt auch Ivan in die Gefilde der DDR-Nomenklatura. Er studierte Geschichte, altorientalische Sprachen, Kunst. Er durfte reisen, freilich nur in sozialistische Bruderländer, denn seine Neigung schien den Behörden zu risikoreich. In Syrien fand er sein Glück, er konntebei Grabungen helfen, sein Wissen war gewünscht, und am Ende des Tages wuschen junge Kurden in den Hamams der Altstadt seinen weißen Körper mit Aleppiner-Seife.
Und als ihm das alles noch nicht reichte, schrieb er sich für Physik, Chemie und Biologie ein. Sein Wissensdrang schien mit seiner Körperfülle zu korrelieren. Je mehr er lernte, desto fetter und teigiger wurde er. Sein Mentor machte es möglich, besorgte aus Parteibeständen alle Leckereien. Und Ivan vergalt es ihm mit sehr guten Leistungen und devotem Verhalten. Sein Freund starb und erlebte gnädigerweise das Ende der DDR nicht mehr, aber all seine heimlich gehorteten Schätze vermachte er Ivan. Nach dem Fall der Mauer zog Ivan aus Ostdeutschland weg, weil er schnell genug von konsumgeilen Landsleuten und fahnenschwenkenden Einheitsidioten hatte. Sie hatten sein kleines Biotop zerstört. Er vergrub sich mit seinen Erinnerungen und seinem Wissen, ging kaum noch aus dem Haus und engagierte eine Türkin, die ihm jede Woche Lebensmittel vor die Tür stellte. Für achtzehn Jahre war diese Frau sein einziger menschlicher Kontakt mit der Außenwelt.
Und jetzt saßen vier völlig fremde Menschen in seiner Wohnung, seiner Höhle. Aber Abdul, sein Freund aus Manbej, hatte für sie garantiert. Und die Exponate, die jetzt vor ihm lagen, waren einmalig. Er hatte über die Medien von der unseligen Pressekonferenz erfahren. Nun durfte er sich um diese Fundstücke kümmern, eines offenbar seltsamer als das andere. Er musste vorsichtig agieren, wenn er überleben wollte. Diesem Quartett zu helfen barg tödliche Risiken.
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