Der Lilith Code - Thriller
Wir können das mit verschiedenen Methodiken beweisen. Aber der darunter liegende Text ist viel spektakulärer. Er ist – wie soll ich sagen? – inmitten des heutigen Chaos eine Oase der Aufklärung, wenn Sie mir diesen Ausflug in die Poesie erlauben.«
Lea räusperte sich. Sie war allein an der Tatsache der Fälschung interessiert, war das doch ein Faustpfand.
»Nur die Ruhe, Werteste.« Der Professor ignorierte Lea und schaute indigniert zu Jan. »Sagt Ihnen der Sohar etwas, Herr Kistermann?«
Jan schüttelte den Kopf.
»Sohar ist das Schlüsselwerk des Kabbalismus. Es erschien in fünf Bänden und ist eine Art Meditation über das Alte Testament. Zahlen, ihre Geheimnisse und Bedeutungnehmen darin einen großen Raum ein. Der Kalligraf dieses Schriftstücks hat sich dieser Zahlenlehre aus der Kabbala bedient und mit Hinweisen auf die Sohar bestückt. Kern der 44 Zeilen auf der einen und 44 weiteren auf der Rückseite ist aber nicht die Verklärung Gottes, sondern die Anbetung einer Dämonin – ihr Name ist Lilith.«
Jan und Elijah stöhnten auf. Lea schaute sie verständnislos an. »Was ist? Wusstet ihr das schon?«
»Nein«, erwiderte Jan, »aber diese Lilith begegnet uns schon seit einiger Zeit. Sie läuft uns sozusagen seit Syrien hinterher.«
Professor Stern lächelte. »Interessant, dass Sie Syrien erwähnen. Seit einiger Zeit hören wir über verschiedene theologische und wissenschaftliche Kanäle, dass speziell in Syrien eine Renaissance des Lilith-Kultes entstanden sein soll. Wir taten es als New-Age-Gewäsch ab, aber es scheint sich um eine ernstere Angelegenheit zu handeln. Mehr kann ich dazu nicht sagen, da mir tiefere Erkenntnisse fehlen. Der Text aber scheint mir mehr als nur eine Anbetung zu sein, denn Lilith taucht in den Texten des Sohar immer wieder auf. Einerseits ist sie böse, andererseits auch Werkzeug Gottes, um sündige Menschen zu bestrafen. Der Sohar glaubt, dass die Bibel in vier Schritten zu verstehen ist: Erst liest man den Text wortwörtlich, dann versteht man die Allegorien, wie zum Beispiel den Turmbau zu Babel. Er ist keine Geschichte über die Architektur, sondern über die Allmacht-Phantasien der Menschen. Dann setzt man im dritten Schritt diese Allegorien in eine Beziehung zum Leben selbst. Im letzten Schritt erkennt man die mystische Verbindung zu Gott dahinter und gelangt in das Paradies der Erkenntnis. Der Glaube an Lilith ist sozusagen die Anti-Kabbala. Sie geht in den gleichen Schritten vor, aber am Ende soll die neue Erkenntnis der Nicht-Existenz Gottes – des Chaos an sich stehen.«
Allen drei wurde es allmählich zu kompliziert. Aber der Professor war in Fahrt geraten. »Im Sohar lesen wir vonSchekinah, der weiblichen Seite Gottes. Sie soll laut jüdisch-mystischer Überzeugung im Jerusalemer Tempel gewohnt und den Ort nach seiner Zerstörung verlassen haben, um zu den Menschen hinabzusteigen und ihnen beizustehen. Ersetzt wurde sie durch Lilith, die fortan regiert. Sie ist das Böse, sucht das Chaos, während Schekinah für das gute Weibliche, das, verzeihen Sie mir, passiv Fruchtbare steht. Lilith hingegen ist das Suchen nach Erkenntnis und Macht. Für viele alte Kabbalisten ist das Weibliche schlicht Ursprung des Bösen an sich. Aus ihr heraus agiert der Teufel. Im Übrigen glauben auch Muslime und Christen an diese positive weibliche Seite Gottes, die zum Seelenfrieden führen soll. Der Islam spricht nur von Sakina. Dieser Text nun beschreibt auf eine sehr eindringliche Weise die Stationen zur freien, aber negativen Erkenntnis über den Zustand der Welt und ihrer Beherrschung.«
Elijah wurde das ein wenig zu viel. »Sie meinen also, Sie hätten den Plan zur Beherrschung der Welt vor sich? Das ist doch lächerlich.«
Auch Jan und Lea waren skeptisch.
»Junger Freund, wir haben immer nur in der Dualität von Gut und Böse gedacht. Diese Schrift ist ein Hinweis auf eine neue oder sehr alte Philosophie. Sie folgt nicht unseren Gesetzen, sie verzichtet auf Moral und Transzendenz. Sie ist beseelt vom tiefen Wunsch, die Welt zu einem Ort werden zu lassen, wo Gott und jede Form von Glauben nicht notwendig sind. Sie akzeptiert das Böse als eine Form, eine Stufe, wenn Sie so wollen. Dieses Schriftstück ist Teil einer Anleitung dazu. Ich kann Sie nur warnen, das nicht als religiöse Spinnerei abzutun. Ich lese den Text nun vor, soweit ich ihn übersetzen konnte.
›In ihren Bahnen gleich, schwingt sie ihre Flügel im Schwarz der Nacht. Gleich auf, gleich ab. Denn
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