Der Lockvogel
Flipchart-Blatt. Darauf war mit dicker schwarzer Farbe ein Kreis gemalt, in dem der Name Lock stand. Daneben befand sich ein kleinerer Kreis, bezeichnet mit Onder . Weiter war er noch nicht gekommen.
Lock war in Moskau. Er war nach Paris sofort zurückgeflogen und seitdem nirgendwo sonst mehr gewesen. Webster wusste das, weil er seinem Informanten im Reisebüro eingeschärft hatte, dreimal täglich nach Buchungen auf den Namen Richard Lock Ausschau zu halten. Bisher gab es nichts.
Der noch nicht besonders detaillierte Plan sah vor, dass Onder sich unter einem Vorwand mit Lock treffen und dabei dessen Stimmung ausloten würde. Wenn Webster mit seiner Vermutung recht hatte, dass Lock sich eingesperrt
fühlte, würde Onder ihm anbieten, den Kontakt zwischen ihnen herzustellen. Das Problem war, dass das nicht in Moskau geschehen konnte, weil es dort zu gefährlich war, und Onder gehörte nicht zu den Menschen, die man auf irgendwelche Missionen schicken konnte; alles musste in seinen Zeitplan passen.
Hammers Rat war klar und gleichbleibend: einfach warten. Wir haben keine Eile; unser Klient will, dass wir aufhören, Geld auszugeben, und auf diese Weise wird nichts ausgegeben, bis sich eine Gelegenheit auftut, die es rechtfertigt. Doch Hammers Selbstbeherrschung fiel Webster schwer; zum einen, weil der Fall an ihm fraß, zum anderen, weil Hammer das Warten als Teil des Spiels genoss. Obwohl Hammer sich unablässig in Bewegung zu befinden schien, beneidete ihn Webster um seine Fähigkeit stillzuhalten.
Während es draußen trüb war und regnete, haderte Webster mit der unbestreitbaren Tatsache, dass es nichts gab, was er tun konnte, und er versuchte, sich mit anderen Projekten zu beschäftigen. Zwei Dinge passierten allerdings in dieser Woche, und keines davon war dazu geeignet, ihn ruhiger werden zu lassen.
Am Mittwoch nach seinem Meeting mit Tourna bekam er auf der Arbeit einen Anruf von Elsa.
»Hast du diese Mail gesehen?«
»Welche Mail?«
»Du hast sie nicht gesehen.« Ihre Stimme war beunruhigt, angespannt.
»Ich bin nicht in meinem Büro. Was ist los?«
»Ich weiß es nicht. Sie ist auf Russisch. Aber sie ging an unsere Adresse.«
»Moment. Ich bin fast da. Mal sehen.« Er setzte sich an
seinen Schreibtisch und schaltete seinen Bildschirm ein. Es gab eine neue E-Mail, von einem Nicholas Stokes, die Betreffzeile war leer.
»Ich bin mit Nicholas Stokes zur Schule gegangen.« Er öffnete die Nachricht.
»Dann hat er einen seltsamen Sinn für Humor.«
Die E-Mail war an Elsa adressiert, er hatte eine Kopie erhalten. Sie war wie ein Brief aufgemacht, oben links stand Websters Privatadresse in Queen’s Park, komplett mit Postleitzahl. Der Text des Schreibens war der vollständige russische Text eines Artikels über Inessas Tod aus dem Kommersant . Webster hatte ihn damals gelesen; er hatte zu den wenigen gehört, die Details zu Inessas Arbeit als Journalistin berichtet hatten. Ansonsten war die Mail leer: keine Anrede, kein »Lieber Ben«, gar nichts. Er starrte sie einen Moment lang mit leerem Blick an. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Was ist das?«, fragte Elsa.
»Ein Artikel über Inessa. Geschrieben, als sie gerade gestorben war.«
»Warum, zum Teufel? Warum steht da unsere Wohnadresse?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Okay. Lass es mich lesen.« Er schaute sich die Nachricht genauer an. Der Name in seinem Eingangsfach lautete Nicholas Stokes, aber die E-Mail-Adresse selbst war borisstrokov5789@googlemail. com. Das sagte ihm nichts. Er öffnete die detaillierten Informationen, die zeigten, welchen elektronischen Pfad die E-Mail genommen hatte, doch auch das half ihm nicht weiter.
»Ich weiß nicht, was es ist«, sagte er. »Eine Botschaft an mich.«
»An uns.«
»Moment.« Er suchte im Internet nach Boris Strokov. Nur eine Handvoll Ergebnisse. »Also, wer immer das geschickt hat, will, dass ich weiß, dass er alles über mich weiß. Ich habe Nick Stokes nicht mehr gesehen, seit ich siebzehn war. Und sie kennen unsere Privatadresse.«
»Und meine E-Mail.«
»Und deine E-Mail. Sie waren fleißig.«
»Wer ist Boris Strokov?«
»Keine Ahnung. Scheint praktisch nicht zu existieren.« Inzwischen hatte er herausbekommen, dass Boris Strokov eine Figur war, die sich Tom Clancy ausgedacht hatte, um den Dissidenten Georgi Markow auf der Londoner Waterloo Bridge mit der präparierten Spitze eines Regenschirms Rizin zu injizieren. Das sollte ihm sagen, dass Russen eine stolze
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