Der Löwe der Gerechtigkeit (German Edition)
war die letzte Spülhilfe gegangen, die Putzfrau würde erst am Morgen kommen. Ich blieb noch eine Weile im dunklen Restaurant sitzen und erschnupperte die Gerüche: Knoblauch, Thymian, Estragon, Rosen. Einer der Prüfsteine in der Gastronomie bestand Monika zufolge darin, für eine stets frisch und verlockend bleibende Geruchswelt zu sorgen. Deshalb verheimlichte ich ihr mein Laster, die gelegentliche Zigarre.
Ich ging zu Fuß in die Yrjönkatu. Das Adrenalin brannte mir auch danach noch in den Adern und hinderte mich am Einschlafen. Da erinnerte ich mich an Laitios Briefumschlag. Sein Inhalt stürzte mich vollends ins Ungewisse.
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Der erste der Berichte – genauer gesagt, der Kopien – war in englischer Sprache abgefasst. Die Namen des Absenders und des Empfängers waren beim Kopieren abgedeckt worden, aber aus den Formulierungen schloss ich, dass der Absender ein hohes Tier bei Europol war, offenbar derjenige, der David ursprünglich beauftragt hatte, sich in Wasiljews Trupp einzuschleichen, und von dem auch der Tötungsbefehl gekommen war. Eingangs wurde festgestellt, dass David Stahl seinen Auftrag ausgeführt, im Meer schwere Erfrierungen erlitten und sich anschließend an einem sicheren Ort versteckt hatte, dessen Koordinaten nicht genannt wurden. Offenbar handelte es sich um die Berghütte in Südspanien, in der ich David besucht hatte. Weiter wurde berichtet, dass Stahl das SR - 90 -Radioisotop auf dem vorgeschriebenen Weg ins «Hauptquartier» geliefert hatte, was immer das sein mochte. Der Bericht war im März des Vorjahres datiert, in der Zeit, als ich bei David gewesen war. Es wurde vermerkt, dass Stahls Aufenthaltsort nur seinen engsten Kollegen und seiner Freundin bekannt war, für deren Zuverlässigkeit die finnische Zentralkripo bürge. Die Frau habe sich zum Stillschweigen verpflichtet.
Natürlich hatte ich geahnt, dass Europol über mich informiert war. Alle Agenten standen unter Beobachtung, und ich war ein potenzieller Risikofaktor.
Der nächste Bericht war neueren Datums. Darin hieß es, in Spanien sei Stahl der Boden zu heiß geworden. Ein ungenannt bleibender Gegner war ihm auf die Spur gekommen, und er hatte mehrere Todesdrohungen erhalten, von denen er seinen Vorgesetzten ordnungsgemäß berichtet hatte. Nachdem der Beschluss gefallen war, Stahl umzuquartieren, hatte er in den Wintermonaten von Kiel und Tartu aus Verbindung zu seinen Vorgesetzten aufgenommen. Europol hatte ihm einen Pass auf den Namen Daniel Lanotte besorgt. Nach dem Besuch bei seiner Familie in Tartu hatte sich Lanotte über seine eigenen Kontakte eine Wohnung in Italien beschafft.
Bis dahin war mir alles bekannt. Doch dann begann der verwirrende Teil. Nach der Ankunft in Italien hatte Lanotte keine Verbindung mehr zu seiner Kontaktperson bei Europol aufgenommen. Ganz offiziell hatte David nie auf der Gehaltsliste der Europol gestanden, denn im Interesse seiner Sicherheit und wegen der Brisanz seiner Mission durften seine Aufgabe und seine Identität nur einem engen Kreis von Polizeibeamten enthüllt werden. Da er bei der Beschaffung des Isotops mit dem internationalen Schwerverbrecher Iwan Gezolian zu tun gehabt hatte, war man der Auffassung, dass er durch eine falsche Identität geschützt werden musste. Im Zusammenhang mit einer anderen Ermittlung, die ebenfalls Gezolian betraf, hatte man allerdings erfahren, dass Stahl-Lanotte ohne Europol-Auftrag mit Gezolians Kontaktperson in Italien in Verbindung getreten war. Ich dachte an den bösartigen Russen im Trüffelrestaurant, an den Mann, der nach Bruder Giannis Worten allen Unglück brachte. War er Gezolians Kontaktmann?
«Bisher wurde Gezolian nicht festgenommen, da es herauszufinden galt, woher er das SR - 90 -Radioisotop hatte. Geheimdienstliche Erkundungen in Weißrussland blieben ergebnislos. Als eine Möglichkeit gelten stillgelegte Atomkraftwerke aus der Sowjetzeit. Die chaotische Situation im Land erschwert die geheimdienstliche Tätigkeit. Unklar ist auch, ob Gezolian die Bezahlung für die Lieferung des Isotops erhalten hat. Es besteht der Verdacht, dass Stahl auch ihn auf irgendeine Weise an der Nase herumgeführt hat.
Stahl hat bereits einige Male auf eigene Faust gehandelt. Er ist ein geschickter Infiltrator. Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, dass die italienische Polizei im April einen anonymen Hinweis auf eine Leiche erhielt, die sich angeblich in Stahls Wohnung befand. Als die Carabinieri die Wohnung inspizierten, erwies sich diese
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