Der Löwe
erwiderte nichts, sondern wartete auf mehr.
Ich stellte mir vor, wie sich Boris eine Zigarette anzündete und Wodka trank. Dann sagte er: »Ich habe keine Ahnung, ob Khalil und die CIA seinerzeit eine Übereinkunft hatten – oder heute. Aber ich werde Ihnen Folgendes erklären: Wenn ein Land angegriffen wird, stellt sich das Volk geschlossen hinter seine Regierung. Das haben Sie am 11. September 2001 erlebt. Aber wenn ein Land nicht angegriffen wird – oder seit … sagen wir, fast zwei Jahren nicht angegriffen wurde –, dann vergessen die Menschen das. Und vielleicht werden sie kritisch gegenüber der Regierung und den Methoden, mit denen die Regierung den Feind bekämpft. Gerade in Amerika ärgern sich die Menschen, wenn sie Freiheiten verlieren. Stimmt’s? Und wie sieht die Lösung vonseiten der Regierung aus? Dem Volk die Macht zurückzugeben? Nein. Die Lösung ist ein weiterer Angriff.«
Ich ging nicht darauf ein, aber mir war völlig klar, was er damit sagen wollte. Doch Boris war … nun ja, ein Russe. Ein KGB-Mann. Und diese Typen liebten ihre Verschwörungen. Und sie spekulierten gern über geheime Intrigen und dergleichen mehr. Und als ich ihn um Mutmaßungen bat, hatte ich den Knopf zu Akte X gedrückt.
»Mr Corey?«
»Tut mir leid, ich habe mir Notizen für ein Drehbuch gemacht. «
»Gibt es sonst noch irgendetwas, bei dem ich Ihnen behilflich sein kann?«
»Im Moment nicht«, versicherte ich ihm.
»Danke für Ihren Anruf. Und für die Woche.«
»Gern geschehen, und vergessen Sie nicht, mich anzurufen, falls Sie ihn zufällig aus Notwehr umbringen müssen.«
»Erst meinen Anwalt, dann Sie.«
»Sie sind ein echter Amerikaner, Boris.«
»Danke.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er zu mir: »Was immer er auch für Sie vorgesehen hat, Mr Corey, es wird nicht angenehm werden.«
»Richtig, genauso wenig wie für Sie. Und vermutlich sind Sie zuerst dran.«
Er ging nicht darauf ein, und wir beendeten das Gespräch. Ich holte mir ein Bier und setzte mich auf den Balkon.
Nun ja, jetzt wusste ich vielleicht ein bisschen mehr darüber, was in Khalils Kopf vorging, aber bei der Suche nach ihm war ich kein Stück vorangekommen. Und ich hatte auch nicht mehr darüber erfahren, was er hier plante. Allerdings war ich mir ein bisschen sicherer, dass er irgendetwas plante – etwas Chemisches, Biologisches oder, Gott bewahre, etwas Nukleares. Etwas, das ihm seine Unterstützer gaben.
Was Boris’ CIA-Verschwörungstheorie anging … nun ja, Boris war nicht der Erste, der meinte, dass es Leute gab, die einen weiteren Anschlag begrüßen würden. Aber einen Anschlag begrüßen und einen inszenieren waren zwei verschiedene Paar Schuh.
Außerdem fand ich, dass ich mich nicht auf eine Verschwörung mit Boris, dem ehemaligen KGB-Killer, einlassen sollte. Aber manchmal muss man sich mit schlimmen Typen verbünden. Der Feind meines Feindes ist mein Freund, wie die Araber sagen. Außerdem verdoppelte sich dadurch die Chance, dass Khalil tot sein würde, bevor er eine Massenvernichtungswaffe auslösen konnte. Oder mich umbrachte. Und das war das Ziel. Ich konnte mir später Gedanken darüber machen, wie ich das alles Tom Walsh erklären sollte, falls ich musste.
Ich trank mein Bier aus und schaute zu den Gebäuden auf der
anderen Straßenseite. Wenn Khalil dort war, dann gab ich ein verführerisches Ziel ab. Aber ich dachte an meinen Traum, der mir vorkam wie die Gesamtsumme all dessen, was ich über diesen Mann wusste, wie er zuvor gemordet hatte und wer er war. Folglich würden wir uns begegnen – vermutlich zu einem Zeitpunkt und an einem Ort, den er ausgesucht hatte, nicht ich, aber begegnen würden wir uns hundertprozentig.
43
U m halb sechs nahm ich mir ein Taxi zur Federal Plaza Nummer 26.
Ich saß ein paar Stunden an meinem Schreibtisch, nahm mir meine E-Mails und Memos vor und hörte meine Voicemail ab. Es gab nicht viel im Zusammenhang mit Asad Khalil, was mich in meiner Vermutung bestärkte, dass der Fall unter Verschluss gehalten wurde. Und was all die anderen Fälle anging, mit denen ich und Kate befasst waren, hatte ich den Eindruck, dass sie an andere Agenten und Detectives verteilt worden waren. Arbeitete ich also noch hier? Vermutlich ja, bis der Fall Khalil geklärt war, auf die eine oder die andere Art.
Tom Walsh ließ sich nicht blicken, und ich nahm an, dass er sich von mir und der Unternehmung distanzieren wollte – aber nicht so weit, dass er nicht vor Ort sein konnte,
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