Der Lord und die Betrügerin
Diener, Freunde und Familie gaben ihr das letzte Geleit, während dunkle, unheimliche Wolken über den Himmel jagten. Sie flüsterten ihre leisen Gebete und hielten die Hände derer, die sie liebten, während die Glocken der Kapelle klagend läuteten.
Kiera bekreuzigte sich und beobachtete mit gesenktem Kopf den Lord von Penbrooke. Er war schwarz gekleidet, seine Tunika war verziert mit Streifen aus Leder und Silber. Er starrte in das Grab. Sein Gesicht war versteinert, seine grauen Augen schienen ihr größer als sonst, sein Haar war so schwarz wie seine Stiefel, es wehte leicht im eisigen Wind. Ein paar Sonnenstrahlen stahlen sich nun durch die dunklen Wolken und ließen das mit Raureif bedeckte Gras des Friedhofs aufglitzern.
Seit dem Tod seiner Mutter hatte Kelan sich von Kiera zurückgezogen. Er war völlig in seine eigenen Gedanken versunken, obwohl er trotz seiner Trauer dafür sorgte, dass alles im Schloss weiterlief. Seine Geschwister waren ebenso in sich gekehrt und hatten sich von Kiera fern gehalten. Das war zu erwarten, doch dadurch war Kiera die ganze Zeit allein, allein mit ihren düsteren Gedanken, mit ihren Schuldgefühlen. Sie hatte mehr Stunden im Gebet verbracht als jemals in ihrem Leben, hatte auf göttliche Intervention gehofft und um Mut gebetet, dem Mann reinen Wein einzuschenken, der glaubte, ihr Ehemann zu sein. Sie hatte versucht, das Thema ihrer Ehe anzuschneiden, doch spät am gestrigen Abend, im Bett, war alles, was Kelan wollte, sich in verzweifeltem, leidenschaftlichem Liebesspiel zu verlieren.
Als sich die Menge zerstreute und zwei Arbeiter begannen, Erde auf den Berg zu schaufeln, stieß Kelan einen langen, tiefen Seufzer aus. »Finde deinen Frieden, Mutter«, flüsterte er so leise, dass Kiera die Worte kaum verstehen konnte. Und dann war es vorüber, und Lenore von Penbrooke hatte endlich ihre letzte Ruhe gefunden.
Die Trauernden traten durch das Tor in den äußeren Schlosshof, wo die meisten der Pferde angebunden waren. Größer als alle anderen, den Kopf den Trauernden zugewandt, stieß Obsidian ein leises Wiehern aus.
Kelan blickte zu dem Hengst. »Psst, Ares«, sagte er, obwohl er abgelenkt aussah, mit seinen Gedanken ganz woanders.
»Das ist ein großartiger Hengst«, meinte Kiera und deutete mit dem Kopf in Obsidians Richtung.
Kelan nickte, als hätte sie ihn aus seinen Gedanken gerissen. »Aye, eines der besten Pferde, die ich besitze.«
»Wie lange hast du ihn schon?«
»Erst ein paar Jahre.« Es gelang ihm sogar, ein wenig zu lächeln. »Ich habe ihn bei einem Würfelspiel gewonnen.«
Kiera wünschte sich sehnsüchtig, sie könnte ihm glauben. »Von wem?«
Seine Augenbrauen zogen sich maliziös in die Höhe. »Von einem deiner alten Verehrer, Frau. Habe ich dir das denn noch nicht erzählt?«
»Von wem? Was willst du mir erzählt haben?«
»Von Brock von Oak Crest.«
»Von Brock?«, wiederholte sie benommen. Brock hatte Obsidian besessen? Aber wie? Hatte er ihn gekauft? Hatte er ihn in dieser Nacht im Wald gefunden... ? Und plötzlich begriff sie.
»Es war vor ein paar Jahren, als ich... als ich die Gunst meines Vaters verloren hatte.« Kelan strich sich eine Locke aus der Stirn, während erste Regentropfen zu fallen begannen. »Ich saß in einem Gasthaus nicht weit weg von Schloss Fenn, und Brock kam auf Ares angeritten. Er war in einen Kampf verwickelt gewesen und erholte sich von einer schlimmen Wunde. Doch er begann zu trinken und wollte unbedingt spielen. Also habe ich zugestimmt.«
»Und um was habt ihr gespielt?«
»Um mein Pferd natürlich. Am Ende des Abends hatte ich zwei Pferde, und Brock hatte keines mehr.«
In Kieras Kopf wirbelten die Gedanken. War Elyn an diesem Abend in den Wald geritten, nicht etwa, wie sie behauptet hatte, aus Angst um Kieras Sicherheit, sondern weil sie sich mit Brock treffen wollte? War der Mann, der sie angegriffen hatte, der sie beinahe vergewaltigt oder getötet hatte, Brock von Oak Crest gewesen? Hatte Elyn auf ihren eigenen Geliebten geschossen und ihn dann im Wald liegen gelassen, damit er sterben sollte? Warum? O Gott, warum? Bruchstücke von Erinnerungen kamen ihr wieder in den Sinn. Es war so dunkel gewesen in dieser Nacht, zu dunkel, um das Gesicht ihres Angreifers sehen zu können, aber irgendwie war Elyn in der Nähe gewesen und hatte diesen Mann mit ihrem Pfeil verwundet. Kiera schluckte. Hatte Brock versucht, eine Frau zu vergewaltigen, der er im Wald begegnet war? Oder hatte er geglaubt, sie sei Elyn
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