Der Lord und die Betrügerin
von Morwenna schlang sie die Arme um den Stalljungen, so heftig, dass sie beinahe beide zu Boden gefallen wären. Zur Hölle mit gesellschaftlichem Stand. Sie hatte bis zu diesem Moment gar nicht gewusst, wie sehr sie Lawenydd und alle im Schloss ihres Vaters vermisst hatte. Ihr Herz jubelte, und Tränen brannten in ihren Augen, als Joseph, der über ihre Heftigkeit überrascht war, sie verlegen in den Arm nahm. »Bei den Göttern, es tut gut, dich zu sehen«, sagte sie, und ihre Stimme brach leicht, als sie ihn ein wenig von sich schob, um ihn anzusehen. »Bitte, komm herein. Wärm dich auf. Rhynn!« Sie wandte sich um zu der Frau, die mit einem Lappen in der Hand und offenem Mund neben der Lady stand. »Hol Essen und Wein für unseren Gast.« Als die Frau wie angewurzelt stehen blieb, befahl ihr Kiera grob: »Sofort.«
»Oh, äh, ja, M'lady.«
Kiera winkte Joseph ans Feuer, und erst jetzt nahm sie seinen Gesichtsausdruck wahr. Es war mehr als nur Erschöpfung, die sie in seinem Blick und in den tiefen Linien um seinen Mund erkannte. Seine Haltung war starr. Er schien zornig zu sein. Sein Kinn bewegte sich, als er vergebens versuchte, die Gefühle, die in seiner Seele brodelten, zu unterdrücken.
Oh, Gott... etwas stimmte nicht. Etwas war schrecklich falsch gelaufen. Sie holte bebend Luft. »Du musst müde sein, und dir ist sicher kalt. Komm, setz dich ans Feuer.« Sie dirigierte ihn zu dem Sessel, auf dem sie bis jetzt gesessen hatte, und winkte einem der Jungen zu, mehr Holz zu bringen und es aufs Feuer zu legen. »Oh... verzeih mir, dies ist meine... Kelans Schwester, Morwenna.«
»M'lady. Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Joseph, doch sein Gesicht blieb ernst, und ein ausdrucksloser Blick lag in seinen Augen, der Kiera Angst machte.
»Setz dich«, forderte sie ihn auf und sank auf einen Stuhl neben ihn. »Hast du Neuigkeiten? Etwas stimmt nicht, das fühle ich.«
Morwenna zögerte zu gehen.
»Aye.« Kiera sah, wie er schluckte, und fühlte eine finstere Bedrohung auf sich zukommen.
»Es geht um Eure Schwester, Lady.«
»Meine Schwester?«, wiederholte sie, und in ihren Ohren begann es zu dröhnen.
»Wir glauben, dass sie tot ist.«
»Nein!« Kiera sprang auf. Elyn tot? Nein, nein! Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme heiser. »Das muss ein Irrtum sein.« Sie konnte es nicht glauben. Sosehr sie Kelan auch liebte und seine Frau bleiben wollte, so wollte Kiera doch nicht glauben, dass Elyn tot war. Auch wenn es eigenartig war, dass sie nicht zurückgekommen war, wie sie es versprochen hatte, so musste Elyn doch noch leben. Sie war so jung. So lebhaft. So stark. »Nein, das kann nicht sein.«
Doch noch-während sie diese Worte aussprach, wirbelten ihr ein Dutzend Fragen durch den Kopf. Hast du dich nicht gefragt, oh ihr etwas zugestoßen ist? Hast du nicht in deinen dunkelsten Stunden angenommen, dass sie womöglich gestorben sein könnte... Und hast du nicht dein Geheimnis für dich behalten, bist hier bei Kelan geblieben, in glücklicher Weltvergessenheit? Hast du nicht deine Ängste beiseite geschoben und hast mit einer Lüge gelebt, anstatt einen Weg zu finden, um Elyn zu helfen?
»Sie ist ausgeritten und dann verschwunden«, erklärte Joseph vorsichtig.
»Aber sie wird doch sicher noch gefunden werden.« War das ihre eigene Stimme? Sie klang so schwach. Sie schien von weit her zu hallen, obwohl sie sicher war, dass die Worte aus ihrem eigenen Mund gekommen waren.
»Nein, ich glaube nicht.« Er rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf.
Nein, nein, nein! Elyn versteckte sich nur irgendwo. Aye, so musste es sein. Man würde sie finden. Lebend. Vielleicht war sie verletzt, aber sicher nicht tot. Niemals tot. »Das ist ein Irrtum, Joseph... sie wird vermisst, das weiß ich, aber... du hast gesagt: >Wir glauben, sie ist tot.< Also ist niemand sicher. Ihr habt ihre Leiche nicht gesehen.«
Joseph starrte ins Feuer. »Sie wollte sich mit jemandem treffen, und dieser Mensch hat später ihr Pferd gesehen. Ohne sie. Sie...« Er räusperte sich und starrte auf seine Hände, die er im Schoß zu Fäusten geballt hatte. »Sie ist in den Fluss gefallen und wurde unter Wasser gezogen. Sie wurde mitgerissen. Man hat keine Spur von ihr gefunden.«
»Nein.« Kieras Körper bebte. Ihre Hände zitterten, ihre Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. Trotz des Feuers fühlte sie sich so kalt wie der Tod bei dem Gedanken, dass Elyn ertrunken sein sollte, dass sie
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