Der Lord und die Betrügerin
dem Fenster. Der Mond stand hoch über den Festungsmauern von Penbrooke, er warf seinen silbernen Schein auf den Boden und die dicken Mauern des Schlosses. Traurig akzeptierte sie die Tatsache, dass Kelan sicher nicht vor dem Morgen zurückkommen würde. Oder noch später. Sie würde also noch einen Tag mit ihrer Lüge leben müssen. Zumindest hatte sie Kelan die Wahrheit gesagt, hatte hart darum gekämpft, dass er ihren Worten glaubte, dass sie Kiera war und nicht Elyn. Wenn er morgen zurückkehrte, so schwor sie sich, würde sie noch überzeugender sein. Sie würde Kelan mit aller Macht die Augen öffnen müssen. Und dann würde sie die Konsequenzen ihrer Handlungen tragen.
Ihre Strafe, wenn Kelan endlich die Wahrheit glaubte, würde streng sein. Das wusste sie. Aber was auch immer für eine Strafe Kelan ihr auferlegte, sie würde weniger schmerzlich sein, als den Hass und die Verachtung zu sehen, die er ihr zeigen würde. Keine Strafe könnte schlimmer sein, als wenn er sie verstoßen würde.
»Gott, hilf mir«, flüsterte sie und bekreuzigte sich. »Hilf uns allen.«
Sie konnte das Warten nicht länger ertragen. Sie schlüpfte in ihren Umhang, zog die Kapuze über den Kopf und lief nach unten, in die große Halle, in der ihr nur wenige Diener begegneten. Die Hunde schliefen neben dem ersterbenden Feuer. Sie hoben die Köpfe, als sie auf ihrem Weg zur Tür an ihnen vorüberlief. Ein Wachmann stand an der Tür, doch als die Hunde merkten, dass alles in Ordnung war, knurrten sie nur leise, gähnten und schliefen sofort wieder ein. »Geht Ihr aus, M'lady?«, fragte der Wachmann.
»Aye, Jeffrey, nur kurz.«
»Aber es ist dunkel und kalt draußen.«
»Ich weiß. Ich werde nicht lange wegbleiben.« Sie schob sich an ihm vorbei und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln.
Draußen war es eisig. Ein leichter Wind wirbelte trockenes Laub um ihre Füße. Durch die Fenster einiger Hütten fiel der Schein der Kaminfeuer, und sie hörte gedämpfte Unterhaltungen und unterdrücktes Lachen. Über ihr knarrten die Segel der Windmühle, und in der Ferne heulte ein Wolf.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte, sie wusste nur, dass sie dringend Bewegung brauchte, um nachzudenken, um ihre Schwester zu trauern und zu planen, was sie dem Mann sagen würde, der noch immer glaubte, dass sie seine Frau war. Ihre Stiefel knirschten auf dem gefrorenen Boden, und ihr Atem stand als weiße Wolke vor ihrem Mund. Ihre Wangen wurden kalt, und sie dachte an Elyn, an Elyn, die den Spaß so sehr liebte, die so wagemutig war und die in die eisige Umarmung des Flusses gezerrt worden war. »Gott sei mit dir, Schwester«, flüsterte sie. Sie lief hinüber zum Aalweiher, wo das Mondlicht seinen Schein auf das Wasser malte. Sie fragte sich, wann Kelan wohl nach Hause kommen würde und ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte, sobald er kam - oder ob sie ihn vorher noch einmal hingebungsvoll lieben konnte.
Sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören, und wandte sich um. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser sehen zu können, doch sie konnte niemanden entdecken. Die Umgebung schien wie verlassen zu sein. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre jemand hier draußen und würde sie beobachten. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Sie war überreizt. Niemand war hier. Und dennoch...
War es Einbildung, oder hörte sie, wie ihr Name in der Dunkelheit geflüstert wurde?
»Kiera.«
Kieras Herzschlag stolperte. Niemand kannte hier ihren richtigen Namen.
»Hier drüben.« Die Stimme klang schwach, als hätte derjenige, der gesprochen hatte, Schmerzen.
Kiera wirbelte herum, ihr Blick suchte die Dunkelheit ab.
»Kiera!« Diesmal war die Stimme lauter. Und sie kam von jemandem, der wusste, wer sie wirklich war.
Elyns Stimme.
Aber das war unmöglich. Elyn war tot. Sie wurde mitgerissen von den eisigen Fluten des Flusses...
Mit jagendem Herzen suchte sie den nächtlichen Schlosshof mit ihren Augen ab. Sie erspähte einen Heuwagen, den Brunnen, dahinter den Garten und strengte sich an, auch in die tiefen Schatten zu sehen.
Spielte ihr ihre Einbildung nur einen grausamen Streich?
Doch da entdeckte sie eine Gestalt, die sich hinter den Ställen der Frettchen versteckte. Kieras Herz schlug heftig, als die Gestalt sich langsam aufrichtete und unsicher auf sie zukam. Sie trug einen mit Pelz besetzten Umhang, der allerdings die zerrissene, blutverschmierte Tunika darunter nicht verdeckte.
Elyn! Die Frau war Elyn! Gott, sie lebte, und sie
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