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Der Lügner

Der Lügner

Titel: Der Lügner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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Richtungswechseln war Adrians Beitrag am Dienstag nach Ostern an Bullocks Adresse in Highgate abgeschickt worden. Beim Wiederlesen fand er es jetzt ziemlich zahm und halbherzig neben dem Libretto einer Rockoper über das Schulleben, das Bullock beigesteuert hatte, und Toms ziemlich riskanter Analyse der Heroin-Gegenkultur in
The Naked Lunch
. Sampsons Allegorie der roten und der grauen Eichhörnchen war schlechthin unverständlich.
    »Jetzt«, sagte Tom, »stehen wir vor der Problemette der Verteilung.«
    »Eher eine Problemola als eine Problemette«, sagte Bullock.
    »Oder gar ein Problerama«, meinte Sampson.
    »Ich würde so weit gehen, es als Problemellaroni zu bezeichnen«, sagte Bullock.
    »Da sitzen wir echt in der Patsche«, sagte Tom, »keine Frage.«
    »Also ich weiß nicht«, sagte Adrian, »wir haben doch jeder schon mal eine Schlafsaalorder bekommen, oder? Wir sollten doch alle wissen, wie man in die Häuser einbricht.«
    »Ich hab, ehrlich gesagt, nie eine bekommen«, sagte Sampson.
    »Also ich eine ganze Menge«, sagte Adrian. »Genauer gesagt, ich glaube, ich halte den Hausrekord.«
    Disziplinarmaßnahmen sind eine heikle Sache in Public Schools; Missetäter auszupeitschen, kleine Jungen vor offenen Kaminen zu toasten, ihnen unerfreuliche Gegenstände ins Gesäß zu stopfen, sie verkehrt herum an den Knöcheln aufzuhängen, all diese grausamen und ungewöhnlichen Formen der Bestrafung waren an Adrians Schule vor seiner Ankunft ausgestorben. Der Direx schnalzte manchmal mit dem Rohrstock, die Lehrer ließen nachsitzen, ordneten Karzer oder Entzug von Vergünstigungen an, und Präfekten erteilten Schlafsaalordern, aber fantasievolle Gewalt und listenreiche Folter gehörten der Vergangenheit an. Es war drei Jahre her, seit man das letztemal einen Jungen kopfüber ins Klo gesteckt und gespült oder seinen Schwanz mit der Tischplatte eingeklemmt hatte. Bei so viel Nachsicht und Liberalismus in der Bestrafung an unseren vornehmsten Bildungsanstalten war es kein Wunder, dachten viele, daß das Land vor die Hunde ging.
    Wann die Schlafsaalorder, deren Gewalt eher bürokratischer als physischer Natur war, erfunden worden war, wußte niemand. Eine einfache Schlafsaalorder bestand aus einem kleinen Zettel, der einem Übeltäter vom Präfekten ausgehändigt wurde. Er enthielt den Namen eines anderen Präfekten, grundsätzlich aus einem anderen Haus. Eine doppelte Schlafsaalorder enthielt die Namen von zwei verschiedenen Präfekten, wiederum aus zwei verschiedenen Häusern. Soweit man sich zurückerinnern konnte, war Adrian der einzige Schüler, dem je eine sechsfache Schlafsaalorder erteilt worden war.
    Der Empfänger der Order mußte früh aufstehen, seine Sportsachen anziehen, zum Haus des ersten Präfekten rennen, dessen Schlafnische betreten, ihn wecken undneben seinem Namen unterschreiben lassen. Dann weiter zum nächsten Präfekten auf der Liste, der meist im Haus am anderen Ende der Stadt wohnte. Sobald alle Unterschriften gesammelt worden waren, hieß es zurück zum eigenen Haus und rein in die Uniform, bevor es um zehn vor acht Frühstück gab. Damit die Frevler nicht mogeln konnten, indem sie in der zweckmäßigsten geographischen Reihenfolge herumgingen oder vor sieben Uhr aufstanden, der offiziellen Startzeit, mußten die Präfekten auf der Liste neben ihrer Unterschrift die genaue Uhrzeit angeben, zu der sie geweckt worden waren.
    Adrian verabscheute Schlafsaalordern, obwohl ein Psychologe vielleicht versucht hätte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, angesichts der Tatsache, wieviel Sorgfalt er darauf zu verwenden schien, sie zu erhalten. Er hielt sie für eine unlogische Form der Bestrafung, für die Präfekten, die aus dem Schlummer gerissen wurden, genauso verwirrend wie für die Bestraften.
    Das System öffnete massivem Mißbrauch Tür und Tor. Mit Kollegen, die sie nicht mochten, konnten Präfekten offene Rechnungen begleichen, indem sie ihnen jeden Tag Schlafsaalordonnanzen schickten. Derlei Orderkriege zwischen Präfekten nach dem Prinzip »wie du mir, so ich dir« konnten sich ganze Semester lang hinziehen. In Adrians Haus hatte Sargent mal eine Fehde mit einem Präfekten namens Purdy im Dashwood House geführt. An jedem einzelnen Tag einer schrecklichen Woche hatte Adrian für absurd geringe Vergehen einfache Schlafsaalordern von Sargent bekommen: während der Hausaufgaben in seinem Zimmer zu pfeifen; beim Zuschauen von Wettkämpfen die Hände in den Hosentaschen zu behalten; es zu

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