Der Lügner
zu ihnen. Die Sorte Inszenierung ist es nun mal. Vor Schrecken starr, erkennt Joe ein Porträt von Sir Christian Flowerbuck, Peters Onkel.
»Der Gentleman hat mir weh getan!« schreit er.
Es stellt sich heraus, daß Sir Christian, Peters Wohltäter und Taufpate, dessen Adelstitel und Geld er einmal erben wird, der erste Mann war, der Joe Gewalt antat.
Die Szene endet damit, daß Joe in der Nacht aus seinem Zimmer schleicht und in Peters Bett schlüpft. Er kennt keine andere Form der Gemeinschaft oder Liebe.
Peter erwacht am nächsten Morgen, um entsetzt festzustellen, daß er dem Jungen beigewohnt hat, der, er ist jetzt mehr denn je überzeugt davon, sein Neffe ist.
Mit der Besetzung Hugos hatte Adrian nichts zu tun gehabt, zumindest nicht, soweit man wußte. Jenny war eines Nachmittags voller Aufregung in sein Zimmer gestürzt.
»Ich habe grad einen perfekten Joe Cotton gesehen! Wir brauchen doch keinen echten Jungen zu nehmen.«
»Wer ist dieses Kind?«
»Er ist kein Kind, er ist im ersten Semester am Trinity, aber auf der Bühne wird er ohne weiteres für vierzehn oder fünfzehn durchgehen. Und, Adrian, er ist genau so, wie du … ahm … wie Dickens Joe beschreibt. Dasselbe Haar, dieselben blauen Augen, alles. Sogar derselbe Gang, obwohl ich nicht weiß, ob aus demselben Grund. Er kam heute morgen bei mir vorbei, es war ziemlich peinlich, erdachte, ich erwarte ihn. Bridget muß es arrangiert haben, ohne es mir zu sagen. Sein Name ist Hugo Cartwright.«
»Wirklich?« sagte Adrian. »Hugo Cartwright, ja?«
»Kennst du ihn etwa?«
»Wenn er der ist, an den ich denke, waren wir auf der Schule im selben Haus.«
Gary öffnete den Mund, um etwas zu sagen, begegnete aber Adrians Blick und ließ es bleiben.
»Ich erinnere mich dunkel an ihn«, sagte Adrian.
»Findest du nicht, daß er die ideale Besetzung für Joe ist?«
»Also in vielerlei Hinsicht, nehme ich an, ist er es. Ziemlich ideal.«
Falls Hugo von den Übereinstimmungen zwischen einem hundertzwanzig Jahre alten viktorianischen Manuskript und Begebenheiten aus seinem und Adrians Leben enerviert war, so erwähnte er das nie. Aber zweifellos wirkte sein Spielen in der Szene aufgesetzt und förmlich.
»Dies ist jetzt dein Zuhause, Joe. Mrs. Twimp wird deine Mutter sein.«
»Ja, Sir.«
»Wie würde dir Mrs. Twimp als Mutter gefallen?«
»Will sie zu uns kommen, Sir?«
»Zu uns kommen, Joe? Inwiefern zu uns kommen?«
»Ins Bett, Sir.«
»Gott schütze mich, Mr. Flowerbuck, der Bursche ist so gewohnt an das Leben in der Sünde, so ist’s und nicht anders, daß er für kein anderes empfänglich sein wird!«
»Es ist nicht notwendig, Joe, daß du mit irgend jemandem außer dir selbst und deinem Erretter schläfst. In Frieden und Unschuld.«
»Nein, Sir, wirklich! Mr. Polterneck und Mrs. Polterneckund Onkel Polterneck müssen ihr Knabengeld kriegen. Ich bin ihr Goldstück, Sir.«
»Behalte deine Kleidung an, Joe, ich bitte dich.«
»Der Herr segne das arme Kind, Mr. Flowerbuck. Seht euch seinen Zustand an! Er sollte gewaschen und frisch frisiert werden.«
»Sie haben recht, Mrs. Twimp. Bringt einen Zuber und einen Bademantel.«
»Ich bin unverzogen zurück.«
Jenny rief vom Parkett herauf.
»Was glaubst du, was hier deine Gefühle für Joe sind?«
Wegen der Scheinwerfer legte Adrian die Hand über die Augen.
»Na, Abscheu, hätte ich gedacht. Ekel, Mitleid, Entrüstung … du weißt schon. Das alles.«
»Gut ja. Aber was ist mit Begierde?«
»Ähm …«
»Weißt du, ich finde, unterschwellig fühlt Peter sich von Anfang an von Joe sexuell angezogen.«
»Also ich weiß wirklich nicht …«
»Ich finde, Dickens macht das völlig klar.«
»Aber er ist sein Neffe! Ich glaube nicht, daß
Dickens
in
Dickens’
Kopf an so etwas gedacht hätte, du etwa?«
»Ich glaube, da können wir uns nicht so sicher sein.«
»Ach nein.«
»Schau dir Joe jetzt einmal an. Er steht vor dir, halb nackt. Ich glaube, wir sollten ein Gefühl verspüren von … wir sollten ein Gefühl verspüren von … von … einer Art latentem, verdrängtem Begehren.«
»Zu Befehl. Einmal Gefühl latenten, verdrängten Begehrens: kommt sofort. Möchten Sie als Beilage noch Selbstekel, oder ist das dann alles?«
»Adrian, der Vorhang geht in drei Stunden auf, hör bitte auf, Scheiß zu bauen.«
»Okay. Gut.«
»So, Hugo, was ist mit dir?«
»Also …«
»Was ist deine Einstellung zu Adrian, deiner Meinung nach?«
»Na ja, er ist bloß ein neuer Freier, oder
Weitere Kostenlose Bücher