Der Lüster - Roman
zögerte.
»Essen.«
»Warum?«
»Weil man den Bauch vollkriegt. Und du?«
»Schlafen … weil man schläft, schläft, schläft …«
Ein kalter Wind kam vom Boden auf und brachte den Duft der kleinen Pflanzen, vermischt mit dem der noch warmen Erde. Obwohl der Tag fröhlich und ereignisreich gewesen war, schien er nun von neuem zu beginnen.
»Gleicht kommt der Regen … schau nur, wie es riecht«, sagte Daniel.
»Weißt du, ich hätte gerne ein ausgefallenes und trauriges Leben«, sagte Virgínia.
Ein Abgleiten, das nicht sein konnte, schwang in ihrer Wahrheit mit, sie war wie ihr eigener Irrtum. Sie fühlte sich fremd und kostbar, auf so lustvolle Weise zögerlich und fremd, als wäre heute schon morgen. Und sie war außerstande, sich zu verbessern, ließ ihren Irrtum jeden Morgen neu erstehen durch einen Impuls, der sein Gleichgewicht fand in unwägbarer Notwendigkeit.
»Also, ich würde gerne sagen können, was ich denke, die Welt würde staunen«, sagte Daniel. »Wenn ich das bloß könnte … das wäre doch nicht zu viel verlangt!«, schloss er verzweifelt.
»Ich will nicht allein schlafen, ich habe Angst.«
»Bis zum Insbettgehen dauert’s noch«, antwortete er ruhiger, trocken.
»Es fühlt sich aber schon wie bald an.«
Er wusste, dass das ein Hilferuf war. Aus einer schrecklichen Güte heraus, als hätte er Mitleid mit sich selbst, ließ er die Schwester nicht warten:
»Dann setze ich mich halt mit der Öllampe auf die Treppe und lese noch ein bisschen.«
Manchmal gab er ihr unversehens einen heftigen Stoß, ein Streich, der in ihr das schmerzliche, überraschende Gefühl hinterließ, gehasst zu werden. Aber das lag nur an seiner Kraft. Die Spiele mit Daniel machten sie immer müde, sie musste darauf achten, nichts zu tun, was ihm missfiel. Das Ganze erreichte einen maßlosen Grad an Verfeinerung, und Daniel war eisern, er duldete nicht den kleinsten Fehltritt. Die Antworten mussten schnell kommen, und er war intelligenter als Virgínia. Bis er einmal gut gelaunt erwachte und gleich morgens zu ihr sagte:
»Hallo, Person …«
Die erleuchtete Überraschung, dass er den Tag damit begann, sie anzuerkennen, ließ sie für einen Moment reglos verharren, die Freude flößte ihr ein übermäßiges Vertrauen ein, und mit einem spitzen, glücklichen Schrei gab sie zurück:
»Hallo, Herr Sohn …«
Er drehte sich um, überrascht, fast beschämt, während in ihr das Lächeln ganz schnell erstarb. Er starrte sie missbilligend an, als hätte sie alles kaputtgemacht, das ganze Leben:
»Du musst wirklich immer was Blödes sagen.«
Ja, manchmal dachte sie eben derart abgemagerte Gedanken, dass sie plötzlich entzweibrachen, bevor sie das Ende erreichten. Und weil sie so fein waren, erkannte Virgínia sie mit einem Mal, selbst ohne sie abzuschließen. Wobei sie niemals in der Lage gewesen wäre, sie von neuem zu denken oder sie auch nur mit einem Wort anzudeuten. Da sie Daniel nicht übermitteln konnte, was sie dachte, gewann bei den Unterhaltungen immer er. Auf geheimnisvolle Weise waren ihre Ohnmachtsanfälle damit verbunden: Manchmal spürte sie einen feinen Gedanken von solcher Intensität, dass sie selbst der Gedanke war und gleichsam auseinanderfiel, sich unterbrach in einer Ohnmacht.
»Aber ihr fehlt ü-ber-haupt nichts!«, sagte der alte Arzt von Brejo Alto, seine Ungeduld hinter der Brille bezähmend.
Tatsächlich war es für sie niemals schlimm gewesen. Die Schwindelanfälle kamen allerdings immer wieder hoch, wenn auch nicht häufig. Unvermittelt drohte der Boden ihre Knie zu erreichen, ohne Gewalt, ohne Hast. Sie erwartete ihn still, doch bevor sie dazu kam, zu begreifen, war der Grund schon an einen Ort abgesunken, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte, er fiel tief in eine Schlucht, fern wie ein Stein, der auf hoher See ins Wasser geworfen wird. Ihre Füße lösten sich in Luft auf, und der Raum wurde von leuchtenden Fäden durchstoßen, von einem kalten, nervösen Geräusch wie Wind, der heftig durch eine Ritze entweicht. Dann umhüllte große Ruhe die schwerelose Welt. Und dann gab es keine Welt mehr. Und dann, in einer letzten, frischen Vereinfachung, gab es auch sie selbst nicht mehr. Nur noch Luft ohne Kraft und ohne Farbe. Sie dachte in einer langen, zitterigen Linie – ich falle in Ohnmacht. Eine Pause entstand, ohne Farbe, ohne Licht, ohne Kraft, sie wartete. Am Ende der Pause fand sie sich verlassen am Boden wieder, der klare Wind drang durchs unbewegliche Fenster, die
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