Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
Vom Netzwerk:
trockenem Laub bedeckt, woher kam dann die Zartheit? Eine Sehnsucht bildete sich in der Luft, pulsierte aufmerksam, löste sich auf, und es hatte sie nie gegeben. Sie schob das Laub weg und schrieb mit einem Hölzchen in schiefen Buchstaben »Reich der Aufgehenden Sonne«. Dann fegte sie das Geschriebene mit dem Fuß weg und schrieb »Virgínia«. Sie spitzte ihr Sein, wie man einen Bleistift anspitzt, und hinterließ mit dem Hölzchen einen feinen Strich auf dem Boden. Dann löschte sie auch diesen und wollte etwas Eindringlicheres zeichnen, mit einem hell strahlenden Ernst. Sie konzentrierte sich, und eine Welle der Nervosität durchlief sie wie eine Vorahnung. Mit äußerster Gefasstheit, die Augen geschlossen, zeichnete sie schonungslos, so als würde sie aufmerksam schreien – dann schlug sie die Augen auf und sah einen einfachen, starken, groben Kreis ohne besondere Merkmale. (Heute bin ich geschwunden) – das war ein Eindruck, und sie hatte es wohl von klein auf gewusst. Ich bin unglücklich, dachte sie langsam, fast überwältigt – sie war fast noch ein kleines Mädchen. Sie rutschte an dem großen Stein herunter, der in der Mitte des Gartens stand. Eine Sekunde nur, um den Boden zu erreichen. Aber während diese Sekunde anhielt, mit geschlossenen Augen, das Gesicht vorsichtig und beweglich, sondierte Virgínia sie lange, länger als die Sekunde selbst, und spürte sie dabei leer und groß wie eine Welt ohne Bewohner. Plötzlich kam sie mit einem Rums am Boden an. Sie öffnete die Augen, und aus der Dunkelheit zum Licht öffnete sich ihr Herz zum Vormittag. Die Sonne, die eisige Sonne. Und gewisse Orte im Garten, so geheim, so mit fast geschlossenen Augen, geheim, als wäre darin verborgenes Wasser. Die Luft glänzte feucht wie Staub, der fast glänzt. Und wenn man vorwärtsrannte ohne Kraft, spürte man, wie unmerklich Pfeile zerfielen, unsichtbar, brüchig und frostig, und die Luft vibrierte in den Ohren fein, nervös, auf unhörbare Weise klangvoll. Sie versuchte, erneut die Augen zu schließen und die Überraschung ein weiteres Mal zu besitzen. Doch der Anblick des Vormittags hatte in ihr nur aufblitzen wollen, und es wäre nutzlos gewesen, die Leere eines anderen Moments in den Blick zu nehmen. Wenn aber Daniel sich einverstanden erklärte, konnten sie reden, in einer schwierigen Sprache. Die zwei hatten sich daran gewöhnt, sich zu unterhalten.
    »Zehn ist wie Sonntag. Wir glauben, der Sonntag ist das Ende von letzter Woche, stimmt’s? Aber er ist schon der Anfang von nächster. Wir glauben, die Zehn ist das Ende von Neun, oder? Aber sie ist schon der Anfang von Elf.«
    »Nein, ich finde, Zehn ist wie Sonntag, weil sie beide rund sind und nicht gebrochen.«
    »Aber der Sonntag ist doch nicht rund, bloß die Zehn.«
    »Also ich finde den Sonntag rund. Finde ich und sehe ich.«
    Sie lachten, weil sie wussten, dass alles verkehrt war, auf undurchsichtige Weise verkehrt. Vor allem sie mochte das, wenn sie etwas Verkehrtes dachte. Und zwar vor dem fast schon angewiderten Blick der Mutter. Daniel sagte zu ihr: »Arme Frau …« Daniel las manchmal gern. Keiner verstand die beiden, und das war so aufregend wie fliehen. Daniel hatte ihr gesagt:
    »Warum isst du eigentlich?«
    Sie hörte das überrascht und fragte eines Tages ihn:
    »Warum gehst du eigentlich schlafen?« Die zwei mussten laut lachen.
    Daniel sagte zu ihr:
    »Denk an die schönste Farbe der Welt.«
    Sie sah ihn an, erleuchtet von der Freiheit, die er ihr gab. In einer flüchtigen, fast hörbaren Mischung erspürte sie schwere Farben, glänzend und schwindelig, alles in Bewegung, wegfließend, erlöschend, bevor sie eine einzelne fassen konnte und Daniel davon erzählen.
    »Wirklich von der ganzen, ganzen Welt?«, vergewisserte sie sich.
    »J-Ja«, räumte Daniel geizig ein.
    Da schloss sie mit Mühe die Augen, die allzu sehr strahlten, und suchte so tief, dass ihr eine Farbe auf die Lippen stieg, die es gar nicht gab, eine erfundene, verrückte Farbe: Hã !, rief sie spitz, und sofort sank ihre Stimme enttäuscht.
    »Was?«, fragte Daniel gespannt.
    Sie wusste nicht, wie sie ihm das erklären sollte. Um den Moment zu überspielen, sagte sie rasch:
    »Rötlich mit Gelb am Rand.«
    »Das ist eine schöne Farbe«, stimmte Daniel zu, »aber nicht die schönste.«
    Für Virgínia jedoch sollte sich alles, was nach diesem Schrei noch hätte gesagt werden können, arm und verbraucht anfühlen. Hã , hã , wiederholte sie ohne Ergebnis. Hã ,

Weitere Kostenlose Bücher