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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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dabei leitete sie die Zartheit des Seins zu einer Empfindung, die fast äußerlich war, so als berührte sie mit dem nackten, aufmerksamen Fuß die Erde und könnte spüren, wie das unzugängliche Wasser dahinfloss. Sie überquerte weite Strecken, indem sie sich nurmehr eine reglose, ehrliche Richtung gab. Aber es gelang ihr nicht, gänzlich aufgesaugt zu werden, wie durch eigene Schuld. Sie behalf sich, indem sie vage die Vorstellung einer Abreise verspürte, des Tages, an dem sie sich mit Daniel in die Stadt aufmachen würde, ein wenig Hunger und Müdigkeit, sie rührte das Mittagessen kaum an. Manchmal kam sie einem Gedanken fast nahe, doch sie erreichte ihn nie, selbst wenn alles um sie herum ihr seinen Anfang zuhauchte; befremdet blickte sie in den Raum ohne Rätsel, die Brise trug ein mehrfaches Frösteln des Verstehens auf ihre Haut; einen Moment lang durchdrang sie noch die Stille, suchte auf deren Grund einen Faden, an den sie sich halten könnte. Und wenn ein Vogel aufflog oder der Schrei eines Tiers aus dem nahen Gehölz herüberklang, erfasste sie ein kühler Wirbel, indes der Wind trockene Blätter und Staub aufwehte, vage Anfänge ohne Abschluss, in einem Strudel dessen, was sie war, und dessen, was sie schon nicht mehr war. Der Augenblick kam, um die Welle bis zum letzten Nerv aufsteigen zu lassen, die sich diesseits ihrer Schwäche bildete und womöglich am eigenen Impuls sterben würde. Partikel um Partikel jedoch kam der unbestimmte Gedanke herabgestürzt, heftig und stumm, bis er sich im Mittelpunkt des Körpers öffnete, auf den Lippen, vollständig, vollkommen, unbegreiflich, weil so frei von seiner eigenen Entstehung – ich muss essen. Da ergriff die Weichheit sie gerade so, verweilte kaum auf ihrem Sein, sie hätte vorwärtsgehen können, ohne dass jemand sie anschob, ohne dass jemand sie rief, unterwegs schlicht deshalb, weil sich bewegen ihrem Körper zueigen war. Das war der Eindruck, und der Magen sackte, fröhlich und hungrig. Aber sie blieb sitzen. Es war, als wäre sie außerstande, aufzustehen und wahrhaft etwas anzusteuern, ihr fehlte auf beklemmende Weise ein Ziel. Sie dehnte sich in die Ferne aus, als könnte sie nach und nach die Form verlieren – sie wollte die Stimmen und Geräusche aus dem Haus hören und beugte sich vor, um sie auseinanderzuhalten. Von neuem lehnte sie sich an den Baum, streifte einen ihrer staubbedeckten Füße ab, überschritt das Verstehen und erlangte mit einer Art unwiderstehlicher Anstrengung das Nicht-Verstehen wie eine Entdeckung. Schon unruhig, unbeweglich, schien die Wirklichkeit sie zu verstören. Sie dachte mit der kraftlosen Stimme der Mutter: Ich bin nervös. Mit einer Besorgnis, in der nichts Sanftes lag, bebte sie karg in der launischen, hysterischen Unbeweglichkeit. Bis das Seil riss, das am gespanntesten war, etwas wie eine Präsenz ihren Körper verließ und sie diesseits ihres eigenen gewöhnlichen Daseins blieb. Angeschoben, außerordentlich gleichgültig und inzwischen nicht mehr sehr hungrig, vergaß sie das alles für immer, so wie eine, die vergessen wird.
    Aber am allermeisten liebte sie es, Lehmpuppen zu formen, was niemand ihr beigebracht hatte. Sie arbeitete auf einem zementierten Streifen, der im Schatten lag, beim hintersten Kellerfenster. Wenn es sie sehr danach verlangte, ging sie die Straße hoch bis zum Fluss. An einem der Ufer, das zwar glitschig war, doch gut zu erklimmen, fand sie den besten Lehm, den man sich wünschen konnte: weiß, formbar, klebrig, kühl. Schon bei der bloßen Berührung, beim Wahrnehmen dieser fröhlichen und blinden Zartheit, dieser Brocken, scheu und lebendig, wurde einem das Herz weich, wurde feucht, fast lächerlich. Virgínia grub mit den Fingern die blasse, gewaschene Erde aus – in der Dose, die sie sich um die Hüften gebunden hatte, versammelten sich die formlosen Stücke. Der Fluss benetzte ihr beiläufig die nackten Füße, und sie bewegte ihre schmalen Finger aufgeregt und klar. Sobald sie die Hände frei hatte, erklomm sie vorsichtig das Ufer, bis sie auf die Ebene gelangte. In dem zementierten kleinen Innenhof legte sie ihren Reichtum ab. Sie mischte den Ton mit Wasser, die Lider bebend vor Aufmerksamkeit – konzentriert, der Körper lauschend, so war sie in der Lage, ein genaues, nervöses Mischverhältnis von Lehm und Wasser zu erhalten, kraft einer Weisheit, die im selben Augenblick geboren wurde, frisch und fortlaufend erschaffen. Sie gewann daraus eine helle, fügsame Masse,

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