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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Sonne warf Flecken auf ihre Füße. Dazu diese Stille ohne Gewicht, summendes Lächeln eines Sommernachmittags auf dem Feld. Sie erhob sich vom Boden, nahm allmählich vage Form an, alles ringsum wartete zahm und unbelebt; dann ging sie weiter und setzte ihr Leben fort, zeichnete Stunden um Stunden gerade Linien, ohne ein Lineal zu Hilfe zu nehmen, nur mit dem Gewicht ihrer Hand, manchmal so, als wäre es nur mit dem Schwung ihres Gedankens; nach und nach gelang es ihr, reine, ebene Linien zu zeichnen, tief vergnügt. Die Arbeit war so erfrischend, so ernst; das Gesicht wurde glatt und die Augen offen.
    Wenn sie im Schatten eines Baumes saß, war sie binnen kurzem von leeren Momenten umgeben, denn seit mehreren Augenblicken geschah nichts, und die künftigen Sekunden würden auch nichts bringen – ahnte sie voraus. Sie beruhigte sich – sie war nicht in der Lage, das geräumige, unerklärliche Wohlgefühl zu verbergen, das sie in ihren eigenen nachdenklichen Körper versenkte, zu zarter, schwieriger Empfindung geneigtes Wesen –, aber aus irgendeinem Grund verstellte sie sich, während sie versuchte, die Steine auf dem Boden zu sehen, mit gerunzelten, verlogenen Augenbrauen, rundum verschlagen und dumm. Etwas Merkwürdiges und Kühles begegnete ihr, etwas, das leicht geringschätzig lächelte, aber achtgab, bis ans Ende zu gehen, und sie dabei fast denken machte in einem ironischen und nutzlosen Impuls: Bist du, wie du sagst, ein lebendes Geschöpf, so setz dich in Bewegung … und sie hätte fast den Wunsch gehabt, sich aufzurichten und ein helles, ein wenig zartes Kraut zu pflücken. Im Inneren ihres Gesichts flüsterten die Vorstellungen, verflüssigten sich bis zur Auflösung – sie war ein Mädchen, ruhend. Sie schaute, schaute. Schloss die Augen und achtete auf all die unzugänglichen Punkte ihres schmalen Körpers, dachte sich ganz ohne Worte, kopierte noch einmal ihr Dasein. Sie schaute, schaute. Nach und nach, aus der Stille, begann ihr Sein aufzuleben, ein verlassenes Instrument, das von selbst zu klingen anfing, und die Augen nahmen alles in sich auf, weil das, was sie zuvorderst ausmachte, das Schauen war. Nichts inspirierte Virgínia, sie war isoliert in ihrem Fassungsvermögen, vorhanden durch dieselbe schwache Energie, die sie hatte zur Welt kommen lassen. Sie dachte einfach und klar. Dachte kleine, makellose Musik, die sich in einem einzigen Faden ausdehnte und einrollte, klar, fluoreszierend und feucht, Wasser in Wasser, Meditation eines unbedarften Arpeggios. Dachte unübersetzbare Empfindungen, vertrieb sich insgeheim die Zeit, als sänge sie in sich hinein, zutiefst unbewusst und stur, dachte einen einzigen flüchtigen Strich: Um geboren zu werden, müssen die Dinge lebendig sein, denn die Geburt ist eine Bewegung – sollte jemand einwenden, Bewegung sei nur notwendig für das Ding, das gebiert, und nicht für jenes, das geboren wird, so irrt er, denn das Ding, das gebiert, kann nichts gebären, das außerhalb seiner Natur liegt, und bringt daher stets etwas von seiner eigenen Art hervor, das daher ebenfalls über Bewegung verfügt – so wurden die Steine geboren, die über keine eigene Kraft verfügen, doch schon einmal lebendig gewesen sind, sonst wären sie nicht geboren, und jetzt sind sie tot, denn sie verfügen nicht über Bewegung, um einen anderen Stein entstehen zu lassen. Kein Gedanke war außergewöhnlich, die Worte mochten das allenfalls sein. Sie dachte ohne Intelligenz ihre eigene Wirklichkeit, als sähe sie, und hätte niemals Gebrauch von dem machen können, was sie fühlte, ihr Meditieren war eine Lebensweise. Es kam formlos aus ihr selbst, doch zur selben Zeit klimperte in ihr eine genaue, zarte Qualität, wie feine Zahlen, die in andere feine Zahlen dringen, und plötzlich erklang eine weitere leichte Zahl, poliert und trocken – und die wahre Empfindung im gesamten Körper war dabei erwartungsvoll. Und schließlich geschah etwas so Fernes, ach so Fernes und vielleicht auf ein Ja Vereinfachtes, dass sie müde wurde, vernichtet, und jetzt dachte sie in Worten: Weißt du, ich bin sehr, sehr müde. Geh schon, murmelte mit einer gewissen Anspannung etwas zutiefst Gesättigtes und schon Gewusstes in ihrem Körper. Aber wohin? Der Wind, der Wind blies. Einfach nur still und mit gespitzten Ohren, wie nach Norden oder nach Osten gewandt, so steuerte sie, schien es, auf etwas Wahres zu, durch das große, unablässige Sich-Bilden winziger, lebloser Ereignisse hindurch, und

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