Der Lüster - Roman
sagte sie leiser, wie um zu überraschen. Und doch war das ein Wort, das schier platzte vor Einsicht, so als würde es von einem Moment auf den nächsten seinen Sinn hinaussingen. Tatsächlich sah die Mutter die beiden an, als hätte sie sie an ihrer Brust genährt, ohne etwas zu merken. Um das bedrückte Gefühl zu umgehen, sie müsse die Mutter rufen, damit diese ebenfalls verstand, sagte Virgínia sich wortlos, dass jene doch einen Ehemann habe, ihre gelegentlichen Besucher; wenn der Abend kam, kämmte sie sich das feine Frauenhaar, lebte verlangsamt, sah nach vorne aus dem Fenster. Sie war nicht hässlich, aber ihre kraftlosen Züge kannten kein Zögern und kündigten nichts an, in einer ruhigen Gewöhnlichkeit, die sicher auch unglückliche und lebendige Momente verdeckte. Virgínia und Daniel freuten sich eilends, wenn sie ihr aus dem Weg gehen konnten:
»Was ist das: Man kauft und kauft und hebt alles auf, und am Ende macht man’s auf und schaut sich’s an?«
Virgínia hatte keine Ahnung: so schwierig, die Dinge zu nehmen, die tief im Inneren der anderen geboren waren, und sie ihrerseits zu denken. Tatsächlich hatte sie gewisse Schwierigkeiten, ihren Verstand zu gebrauchen. Manchmal fing sie keineswegs bei einem Gedanken an, um zu einem Gedanken zu gelangen. Manchmal genügte ihr, ein wenig zu warten, und schon besaß sie ihn ganz. Bis Daniel triumphierend sagte, mit kühler Stimme:
»Na, Sachen sammeln, du dumme Kuh!«
Virgínia erwiderte:
»Was ist das: Man geht und geht, und dann sagt man: Ach, gehen wir lieber doch nicht, gehen wir spazieren, ja?«
Er erriet es sofort, nachlässig, aber im Grunde ganz angetan:
»Na, Schule schwänzen, das weiß doch jeder.«
Und dann sagte sie zu ihm mit ernster Glut:
»Hör mal, irgendwann, weißt du …«
Und er schenkte ihr einen Blick und nahm das an, was sie selbst nicht verstand. Aber nur selten äußerte er sich lobend über Virgínias Entdeckungen, war selten überwältigt von dem, was sie konnte. Oft sagte er, als spräche er mit einem abwesenden Dritten, der ihn besser verstehen könnte, während Virgínia aufmerksam und neugierig lauschte:
»Die ist so blöd, für die ist alles leicht.«
Einmal jedoch – sie hatte ein ganz geschwollenes Gesicht, von Zahnschmerzen – lehnten sie im Gästezimmer am Erker und sahen in den Abend hinaus. Dort unten erstreckte sich gleichförmig die Dunkelheit, und wenn der Wind durch die Sträucher blies, schien sie sich zu bewegen wie ein Meer. Flüchtige Wellen von Glühwürmchen schimmerten schwach und erloschen wieder.
»Guck mal, Daniel«, sagte Virgínia, »guck mal, was ich gesehen habe: Glühwürmchen verschwinden …«
Er sah sie an, sah ihr geschwollenes, rotes Kinn im traurigen Licht der Öllampe, die im Zimmer stand.
»Was? …«, fragte er lustlos.
»Also: Wenn wir ein Glühwürmchen sehen, denken wir nicht, es ist erschienen, sondern es ist verschwunden. Wie wenn ein Mensch stirbt, und das wäre das Erste von ihm, weil er weder geboren wäre noch gelebt hätte, weißt du? Die Frage geht so: Wie sind Glühwürmchen? Die Antwort ist: Sie verschwinden.«
Daniel begriff, und die zwei standen eine Weile schweigend und zufrieden da. Sie war manchmal sehr gut darin, zwei Sachen an einem entlegenen Ende zusammenzuführen und sie verblüfft tanzen zu lassen, verrückt, sanft, hingerissen. Zutraulich und warm fuhr sie fort:
»Würdest du so sein wollen, Junge?«
»Wie, so?«
»So wie die Glühwürmchen für uns sind … Ohne dass jemand weiß, wie man ist, ob man jetzt auftaucht oder verschwindet, ohne dass es jemand errät, aber glaubst du, wir leben dabei nicht? Doch, tun wir, mit einer Geschichte und allem Drum und Dran, wie Glühwürmchen auch.«
»Da sagst du mal was, das ich auch denke: Das wäre gut«, bemerkte Daniel, und wieder verstummten sie und schauten.
Wenn der Tag zu Ende ging und die Gelassenheit der Dämmerung kam, flüsternd und diffus, füllte sich Virgínias Herz mit einer Traurigkeit ohne Ausdruck, während ihr Gesicht ruhiger wurde, tiefer. Still, die Seelen weit aufgerissen, ausgestreckt, starr vor Schrecken, so schienen beide unabwendbar in die Ewigkeit einzutreten. Sie lehnten sich noch inniger an den Erker des Gästezimmers und sahen lange Zeit auf die rötlich-violette Ausdehnung des Feldes hinaus, auf das Schwarzblau der Bäume, die reglose Trockenheit der Äste.
»Was magst du lieber: essen oder schlafen?«, fragte sie nachdenklich.
Er
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