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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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in der Schwebe, sein Gedanke kreuzte sich mit dem ihren, wie der Bogen über eine Geigensaite fährt, schwerelose Funken von Scharfblick und Überraschung zerstoben in der Luft. Tage vergingen, ohne dass ein weiteres Wort über die Gesellschaft verloren worden wäre, ohne dass sie es gewagt hätten, diesen lebendigen, formlosen Stoff zu berühren. Aber sie hatten nicht vergessen. Das Schweigen war notwendig, um eine Pause zu schaffen in der Furcht, die sie bereits gepackt hielt. Und in der Freude, die Virgínia erzittern ließ, die Augen beherrscht. Die Gesellschaft der Schatten brachte sie Daniel so nahe! Tag für Tag ließ er sie zu. Sie liebte sogar die Geheimnisse mit einer Wildheit, als gehörten sie zu seiner Art.
    »Und die Wahrheit?«, fragte sie.
    »Was für eine Wahrheit?«
    »Es muss noch eine Devise geben: Die Wahrheit.«
    »Ja«, brauste Daniel auf, so schwer fiel es ihm, für einmal Virgínia zu folgen.
    Anfangs hatten sie vereinbart, dass es jeden Samstag eine Versammlung geben sollte, auf der ersten Lichtung, sobald man den Weg am Zaun entlangging. Das war ein Ort, wo alles, was einem im Leben widerfahren sollte, sich überstürzte und eintrat – so hatten sie befunden. Wenn du jung sterben musst, dann gehst du dahin und stirbst, erklärte Daniel. Es war wirklich die schlechteste Lichtung, feucht, schattig, von hohen, dünnen Bäumen umschlossen; unter den Parasitenbäumen, die nach nichts rochen, und den hängenden Lianen schaukelten die Äste; dunkle, große Spatzen flogen senkrecht, als würden sie niemals wagen, sich zu befreien. Die Erde war schwarz und nass; von einem Regen zum nächsten spiegelten die kleinen Pfützen Zweige und Schatten, ohne dass die Sonne sie je erschöpft hätte.
    Das Fieber erlaubte ihnen nicht, die Versammlungen in so großen Abständen abzuhalten. Sie gingen dazu über, sich täglich zu treffen, gleich nach Sonnenuntergang. Laut Weisung sollten sie auf verschiedenen Wegen zur Lichtung aufbrechen und auch alleine zurückkehren. Doch nachdem ein paar Tage verstrichen waren, ertrugen sie den einsamen Rückweg nicht mehr. Da es fast Nacht war, brach der Schrecken umso schneller über sie herein. Die kleinen Vögel flogen wie blind und schlugen ihnen ins Gesicht. Die Blätter der hohen Bäume waren dünn und lang, die stehende Luft auf der Lichtung waberte, sie wehte gegen das Laub, und etwas wie ein Hauch auf gläserne Glöckchen wurde hörbar, eintönig und langgezogen, ungerührt. Nein, sie hätten den einsamen Rückweg nicht ertragen können … Sie gingen gemeinsam, in falscher Ruhe, blass im Gesicht. Im Haus hatte niemand etwas von der Anspannung gemerkt, in der sie lebten. Und das gab ihnen ein Gefühl, als wären sie beide allein auf der Welt. Wie erschreckend und geheim es war, der Gesellschaft der Schatten anzugehören. Seit Daniel dort das Sagen hatte, gewann er an Kraft. Virgínia vertiefte sich auf gefährliche Weise in ihre natürliche Schwäche und Verträumtheit. Und wenn Daniel sie mitten auf der Lichtung stehen und warten sah, mit kalten Händen, die Augen groß und verdunkelt, und sie in Erfüllung einer der Weisungen der Gesellschaft fragte: Was war heute dein stärkster Gedanke?, dann schwieg sie erschrocken, denn sie konnte ihm nicht erklären, dass sie einen Tag von übermäßiger Inspiration erlebt hatte, aus der sich unmöglich ein Gedanken hätte ableiten lassen, so wie ein Übermaß an Licht einen am Sehen hinderte – seelisch erschöpft, atmete sie in reiner Lust ohne Lösung und fühlte sich so lebendig, dass sie hätte sterben können, ohne es zu merken. Daniel wurde wütend, packte sie am Arm, schubste sie, sie habe von nichts eine Ahnung, schimpfte er und drohte, die Gesellschaft der Schatten aufzulösen, was sie in größeren Schrecken versetzte als seine körperliche Grobheit. Daniel beunruhigte sie; es war, als wäre er durch die Macht, die er in der Gesellschaft der Schatten erworben hatte, ein schlechterer Mensch geworden; er hatte sich verhärtet und kannte kein Pardon. Virgínia fürchtete ihn, aber ihr kam gar nicht in den Sinn, sich seiner Herrschaft zu entziehen. Gerade weil sie sich selbst als dumm und unfähig erkannte. Daniel war stark. Noch bevor sie begriff, was er wollte, stimmte sie also schon zu:
    »Virgínia, du siehst jeden Tag Milchkaffee und trinkst gern Milchkaffee. Du siehst Vater und respektierst den Vater. Du kratzt dir das Bein auf, und das Bein tut dir weh, kapierst du, was ich sagen will? Du bist primitiv und

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