Der Lüster - Roman
beschränkt.« Ja, bei Gott, das war sie. »Nun, die Gesellschaft der Schatten hat die Pflicht, jene, die ihr angehören, zur Vollkommenheit zu führen, und sie erteilt dir die Weisung, alles in sein Gegenteil zu verkehren. Die Gesellschaft der Schatten weiß, dass du primitiv bist, du denkst nämlich nicht, wie man so sagt, in die Tiefe, du kannst alles nur so, wie man dir’s beigebracht hat, verstehst du das jetzt? Die Gesellschaft der Schatten verfügt, dass du morgen in den Keller gehst, dich hinsetzt und ganz lang nachdenkst, um herausfinden, was zu dir selber gehört und was man dir nur beigebracht hat. Morgen kümmerst du dich weder um die Familie noch um sonstwas auf der Welt! Die Gesellschaft der Schatten hat gesprochen.«
Sie frohlockte insgeheim: Entgegen Daniels Vermutung liebte sie den Keller, sie hatte sich noch nie davor gefürchtet. Aber das behielt sie für sich: Hätte sie sich etwas anmerken lassen, wäre der Platz zum in die Tiefe denken verlegt worden. Sie zitterte bei dem Gedanken, Daniel könnte sie zum Nachdenken in den Wald schicken, bei Einbruch der Nacht. Für den kommenden Tag keine schwierige Aufgabe zu haben war, als bekäme man Ferien. Daniel taxierte sie an dem Abend ein wenig überrascht, als er sah, wie sie beim Essen fröhlich fast als Einzige sprach und eine Ohrfeige des Vaters ungerührt entgegennahm. Aber außerhalb der Lichtung durften sie über die Gesellschaft der Schatten nicht reden, und so war sie frei und beobachtete fast böswillig und glücklich Daniels unruhige Blicke.
Da sie sich nicht um die Familie kümmern sollte, sorgte sie am darauffolgenden Morgen dafür, dass die Familie sich auch nicht um sie kümmerte. Sie frühstückte also wie gewohnt mit den anderen und antwortete, wenn sie gefragt wurde. Gehorsam gegenüber Daniel, verschloss sie jedoch das Herz ohne Zorn und ohne Seligkeit, wie bei einer ehrlichen Arbeit, versteckte es unberührt an einem dunklen, stillen Ort. Man durfte sich nicht vermischen, durfte um sich herum nichts mit Gedanken bewegen, um nicht selbst unmerklich bewegt zu werden. Zerstreut erriet sie: Wenn sie in die Tiefe dachte, würde sie erfahren, was zu ihr gehörte, wie Wasser, das sich ins Wasser des Flusses mischt, und was nicht, wie Steine, die sich ins Wasser des Flusses mischen. Ach, sie verstand so viel. Sie seufzte vor Freude und einem gewissen Unverständnis. Eines Tages würde sie vielleicht nicht antreten zum Respekt gegenüber den Eltern, zur Lust des Spazierengehens, zu dem guten Geschmack von Kaffee, dem Gedanken, dass Blau ihr gefiel, dem Schmerz einer Wunde am Bein. Wobei sie das noch nie gekümmert hatte. Langsam ging sie Richtung Keller, schob das Gitter auf und tauchte in den kühlen Geruch des Halbdunkels ein, in dem Bottiche, Staubkörner und alte Möbel ein schüchternes Leben führten. Sie setzte sich neben die schwarzen Kleider aus einer vergangenen Trauerzeit. Aus den Truhen wehte ein keuchender Hauch, ein Friedhofsgeruch kam von den Fliesen hoch. Sie setzte sich hin und wartete. In regelmäßigen Abständen drückte sie das grobe Kleid gegen ihre Brust. Draußen sangen die Vögel, aber das war die Stille. Um in die Tiefe zu denken, durfte sich ein Mensch an nichts Bestimmtes erinnern. Sie reinigte sich also von Erinnerungen, verharrte achtsam. Da es ihr immer leichtfiel, nichts zu begehren, verhielt sie sich still, ohne die schwarzen Schatten im Keller auch nur zu spüren. Und dann entfernte sie sich zusehends wie bei einer Reise. Nach und nach gelangte sie zu einem Denken ohne Worte, einem grauen, sehr weiten Himmel ohne Umfang oder Beschaffenheit, ohne Oberfläche, Tiefe oder Höhe. Manchmal, als schwebten leichte Wölkchen im Hintergrund, wurde der Himmel vom vagen Bewusstsein der Erfahrung und der Welt außerhalb ihrer selbst durchstoßen. Die Furcht davor, Daniels Befehl zuwiderzuhandeln – eine Furcht, die kein Denken war und es auch nicht störte – kam über sie, dazu eine Neugier, ohne Unterbrechungen weiterzumachen, die sie nötigte, sich über ihre eigenen Kenntnisse hinauszubewegen. Ohne Mühe, ohne Freude – wie um bei keinem bestimmten Gefühl zu verharren – zog sie die Wahrnehmung ab, und der Himmel wurde wieder rein. Ob sie wohl jetzt in die Tiefe dachte?, fragte in ihr ein Bewusstsein, das für sich stand. Leuchtende, trockene und schnelle Linien kratzten über die Bilder, die sie in sich sah, ohne Sinn, ausgebrochen durch einen geheimnisvollen Spalt, und wurden dann, außerhalb der
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