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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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seidiger, heiserer Stimme. Und ihr Körper verging zusammen mit dem Klang in der dunklen Luft des Zimmers.
    Das Jahresende rückte näher, der Schulunterricht ging seinem Ende entgegen, und Virgínia ließ die Stunden über sich ergehen, auf ihrem Platz unter den Faulenzerinnen. Der Schulchor war spärlich und zitterig, Virgínia sang mit halb geschlossenen Augen, ohne die eigene Stimme zu hören, die Finger wanderten zerstreut über die nahe Wand. Sie konnte ein konzentriertes Gesicht aufsetzen, während sie flugs ihren Gedanken nachhing. Manchmal schloss sich die Lehrerin dem Chor an, kraftvoll, glühend. Und manchmal verbanden sich die Stimmen für einen flüchtigen Augenblick, der lange im Körper nachhallte, zu einer vollen, schnellen Linie, einer einzigen Schwingung, tief und spannungsreich, als erhöben sie sich aus der Höhle zum Licht. Virgínia schlug erstaunt die Augen auf, der Moment, der nun folgte, war neu und borstig, sie betrachtete die Welt mit ihrer glatten Oberfläche, die Sonne, die nun blasser und fröhlicher war, die Kleider der Mädchen mit ihren Verzierungen in Weiß, in Rot, Münder, die sich feucht öffneten, zögernd in einem Kranz aus Licht. Geschärft, wie um alles zu überraschen bei der Beichte dieses selben Moments, wandte sie den Kopf in Sekundenschnelle, ohne Vorankündigung, einem Möbelstück zu – dem Inneren des Schulhauses –, den Füßen der Schülerinnen … Am Himmel, durchs Fenster, zerfielen weiße Wolken, schnell und losgelöst vom stillen Blau. Die Fensterscheibe trennte sich von Klassenzimmer und Hof, sprühend von gleißendem Licht. Ein Kegel aus Helligkeit fiel auf einen Wirbel von Staubkörnern, ihren langsamen, irren Taumel … Virgínia, wach in dem eiligen Augenblick, drehte sich um, sachte, um nichts zu zerstören, und ja, da war die Schiefertafel halb glühend unter der Sonnenhitze, halb frisch und schwarz … tot und überschattet, ein See im Wald. Virgínia atmete, das Gesicht beweglich, gelöst. Ohne etwas zu sehen, konnte sie doch das Feld überraschen, das hinter der Schule im Schatten lag, die langen Gräser bebend, nervös und grün im Wind. Gleich darauf, in einem winzig kleinen, lautlosen Sturz, nahmen die Dinge ihre wahre Farbe an. Das Klassenzimmer, der Himmel, die Mädchen verständigten sich in längst festgelegten Abständen, festen Farben und Klängen – das Dahingleiten einer oft geprobten Szene, und Virgínia begriff enttäuscht, dass das alles schon vor Jahren gesehen worden war. Um von neuem in den Blick zu bekommen, was sie gesehen hatte und was jetzt weg war, als wäre es für immer, setzte sie nochmals beim Ende der Empfindung an: Sie öffnete die Augen groß vor Überraschung. Aber vergeblich: Sie sollte sich nicht mehr irren und nur noch die Wirklichkeit sehen. Sie sammelte sich. Schon jetzt teilte sich das Bündel von Stimmen in zerbrechliche Blitze, und diese barsten einen Augenblick vor der Ankunft im Mittelpunkt der Klänge; auch die übrigen Dinge wurden jetzt schon schlaff, und nichts berührte mehr den lebendigen Punkt in sich. Den Rest des Nachmittags kam Virgínia zur Ruhe, vage, nebelhaft, distanziert, ein wenig müde, als wäre tatsächlich etwas vorgefallen. Es gab solche Tage, an denen sie so gut verstand und so vieles sah, dass sie am Ende in eine sanfte, benebelte, fast schon sehnsüchtige Trunkenheit verfiel, so als rissen ihre Wahrnehmungen ohne Gedanken sie in einen glänzenden und süßen Sog wohin, wohin.
    Nach und nach, schauend, ohnmächtig werdend, erfassend, atmend, wartend, nahm sie eine immer tiefere Verbindung mit dem auf, was da war, und verspürte Lust. Nach und nach gelangte sie ohne Worte zu einer Art Unterverständnis der Dinge. Ohne zu wissen, warum, begriff sie; und das Gefühl in ihr war das eines Kontakts, eines Daseins im Sehen und Angesehenwerden. Aus dieser Zeit sollte etwas bleiben, das von unentzifferbarer Klarheit war. Und woher kam, dass möglicherweise alles die Vollkommenheit seiner selbst verdiente? Und woher kam eine Neigung, die fast der folgenden glich: sich dem kommenden Tag verbinden durch einen Wunsch. Von wo war das nur hochgekommen? Sie hatte doch fast keine Wünsche … Sie hatte fast keine Wünsche, besaß fast keine Kraft, sie lebte am Ende von sich und dort, wo anfing, was schon nicht mehr war, und fand ihr Gleichgewicht im Unbestimmten. In ihrem Zustand geschwächter Widerstandskraft nahm sie in sich auf, was sich als allzu zerbrechlich erweisen sollte, um zu kämpfen und

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