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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Umgebung, in der sie geboren waren, schwach und benommen. Sie konnte in alle Richtungen denken; sie schloss die Augen und schickte einen Gedanken durch den Körper, der dem glich, was von unten nach oben wächst, oder aber dem, was den offenen Raum in flinkem Lauf durchläuft – das war nicht Wort oder Inhalt, sondern die Form des Denkens selbst, das sich eine Richtung suchte. War das wohl jetzt in die Tiefe denken – nicht einmal einen Gedanken zu haben, den man an die Oberfläche bringen könnte … Die Stille setzte sich fort, grau und leicht. Am Himmel öffnete sich eine Sekunde lang eine zögerliche Lichtung, aber sie entdeckte verwirrt, dass es ihre eigene Konzentration war, die da zerfaserte; und weiter herrschte dichte Stille, eine Dichte ohne Form und ohne Umfang, Anhäufung einer Substanz, die weniger greifbar war als die Luft, eines Elements, das unbestimmter war als der Wohlgeruch durch die Luft. Für einen Augenblick freute sie sich auf schwache, subtile Weise darüber, dass sie es geschafft hatte – nur für einen Augenblick, Licht, das an und wieder ausgeht. Hatte sie etwa noch mehr als in die Tiefe gedacht und sah nun schon nichts?, dachte sie erschrocken. Der Himmel war weiterhin monoton, monoton, dahinziehend. Obwohl sich auf seiner Oberfläche kein Bild zeigte, war er nicht unbeweglich, seine Ausdehnung-ohne-Maß erneuerte sich stets von neuem, wie das Sich-Ausrollen des Meeres – immer weiter, ohne je aus sich herauszukommen. Sie versuchte, ihn zu verändern, indem sie die Körperhaltung wechselte, war es müde, so roh da zu sein. Sie streckte sich auf einem farblosen Kanapee aus, den Kopf niedriger als die Beine, das blasse Gesicht ausdruckslos. In einer unbequemen Hellsichtigkeit sah sie hängende schwarze Kleider, einen Klavierhocker, einen geschwärzten Bottich, eine Puppe ohne Beine, Lampen, einen Becher. Langsam, in einer konzentrierten Anstrengung, die aus der Mitte des Körpers aufstieg, machte sie sich vom Keller frei, und es gelang ihr zu warten ohne Empfindungen. Erneut kam der Himmel in ihr auf. Draußen, auf dem trockenen Laub, das am Boden lag, waren Schritte zu hören. Sie entfernten sich … Und da sie sich erlaubt hatte, Schritte zu hören, anstatt sie nicht zu hören, hatte sich jetzt alles plötzlich in eine unleugbare Wirklichkeit aufgelöst. Sie stand auf und versuchte, noch benommen von der niedrigen Position des Kopfes, sich von dem Keller und seinem Koffergeruch zu befreien. Sie schob das harte Gitter zurück, wischte sich den Schmutz und den Rost der kalten Eisenstäbe von der Hand. Die Augen schmal, das Gesicht in Falten gelegt, kam sie aus dem Untergrund ins Helle, ein leicht schmerzhaftes Aufprallen, das Gesicht trieb bleich dahin. Ein unmerkliches Pochen begann auf der eisigen Stirn. Die braune Kellerluft dehnte sich draußen ins Grüne und Rosafarbene. Sie lächelte schwach. Aus der Dunkelheit ins Licht – dies war eines der Ereignisse, die sie am meisten freuten, sie freuten, sie freuten … Eigentlich war sie froh darüber, dass das Experiment keinen Erfolg gehabt hatte. Bestimmt würde Daniel sie dazu verpflichten, am nächsten Tag wieder in den Keller zu gehen, also wieder Ferien … Aber sie hatte nicht die Kraft, um glücklich zu sein. Sie war müde geworden.
    Langsam ging sie aufs Feld hinaus. Ihre Stirn brannte jetzt, während die harten, eisigen Hände in der Sonne nicht wärmer wurden. Über ihrer Schwäche fing auch noch ihr Kopf an zu pulsieren, und jeder Windhauch ließ sie frösteln. Sie gab ihr Vorhaben auf, spazieren zu gehen, und schleppte sich zurück ins Haus. Als sie die Treppe hochging, hörte sie, dass sich jemand auf dem Absatz bewegte, sah Daniel sie belauern; seine Augen waren trocken und fest, sie würden ihr niemals vergeben. Was sollte sie ihm am Abend auf der Lichtung sagen? welchen Gedanken würde sie ihm mitbringen von dem Experiment? Die Angst trübte sie bis zur Ermüdung. Sie ging in ihr Zimmer, rollte sich auf dem Bett zusammen. Sie zitterte vor Kälte, einer Kälte, die aus den Eingeweiden hochzusteigen schien und aus einem Herzen, das beengt und beschmutzt war, und in ihrem Kopf hämmerte es weiterhin mit fröhlicher Präzision. Bin ich verrückt?, kam ihr in den Sinn, als ob es jemand ausgesprochen hätte, aber sie war nicht in der Lage, das Denken einzustellen. Ich muss schlafen, um damit aufzuhören – aber sie konnte nicht. Was sollte sie Daniel sagen? Schon jetzt wusste sie nicht einmal, ob sie den Himmel aus

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