Der Lüster - Roman
eigener Kraft gesehen hatte, so wie jemand sieht, was da ist, oder ob sie an einen Himmel gedacht hatte und ihr gelungen war, ihn zu erfinden … Sie war in eine unbekannte, wahnsinnige Welt eingedrungen, und auf unbestimmte Weise schien ihr, dass der Himmel von Augenblick zu Augenblick immer schon da gewesen war, immer gegenwärtig und in Ruhe … und dass darauf ihre Wünsche nach Dingen dahinzogen, ihre Visionen, die Erinnerungen, die Worte … ihr Leben. Und schließlich war er es, der in Momenten der Stille aufzog und wuchs, ihr auch eine Stille der Gedanken gab … oder taugte das alles bloß als eine ihrer Ideen, eine Erfindung? die Wahrheit zu sehen, unterschied sich das davon, die Wahrheit zu erfinden? ihr Kopf barst schier, er blähte sich schwankend wie eine kalte Feuerkugel. Die Wahrheit zu sehen, unterschied sich das davon, die Wahrheit zu erfinden? ihr Gedanke war am Ende so stark, dass er von keinem anderen mehr umgeben schien. In diesem Zustand, der einem Delirium nahekam, dachte sie beharrlich weiter: Wenn dieser Himmel eine Wirklichkeit war, beobachtete sie, so wüsste sie im Fall eines Rückzugs doch keine andere Etappe zu erreichen – die dem Himmel vorausgehende, die höchste –, sosehr sie sich anstrengte: Ihre Kraft, zu suchen, hatte sich erschöpft. Nein, sie wäre dazu nicht in der Lage. Aber mit einer unerklärlichen Gewissheit von Vollkommenheit dachte sie, wenn sie das erreichen könnte, was hinter dem Himmel lag, würde ein Augenblick kommen, in dem klar wäre, dass alles frei war und dass man nicht unabänderlich an das gebunden war, was es gab. Man müsste nicht mehr den Vater respektieren, den Schmerz im verletzten Bein spüren, sich der Freude freuen … Erschrocken, in einer Erregung, die die Empfindlichkeit ihres Kopfes schürte, stand sie auf und ging ans Fenster. Dieses Wissen, spürte sie, entzog sich der unleugbaren Wirklichkeit, aber es war doch wahr. Jetzt wurde es offensichtlich: Es war wirklich wahr! jegliches Dasein war so frei, dass sie sogar die Ordnung ihrer Gefühle umkehren könnte, sich nicht vor dem Tod ängstigen, das Leben fürchten, den Hunger herbeisehnen, Glückliches hassen, die innere Ruhe verlachen … Ja, ein kleiner Anstoß würde genügen, und sie würde mit unbeschwertem, leichtem Mut die Trägheit überschreiten und das Leben Moment für Moment neu erfinden. Moment für Moment! So zitterten in ihr Gedanken aus Glas und Sonne. Mit einer Geste kann ich alles erneuern, spürte sie ungestüm und war dabei feucht wie etwas, das geboren wird, aber sie wusste auf unklare Weise, dass dieser Gedanke höher war als seine Verwirklichung, und tat perplex und gelassen nichts, keine Geste. Da glitt sie langsam in die wohltuende Dunkelheit der Ohnmacht und des fröhlichen Verzichts – einige Minuten verstrichen, die Fliegen des lauen Morgens summten durchs Zimmer, setzten sich auf ihren ruhigen Körper und verließen ihn wieder, um auf der trockenen, glänzenden Fensterscheibe zu rasten. Nach und nach kehrte die Wirklichkeit zurück, stieg ruhig und kühl aus dem Halbdunkel auf.
Auf der Lichtung erzählte sie ihm, sie hätte versagt. Daniels erste Regung war Wut. Dann jedoch unterdrückte er das Gefühl, als hätte er es sich besser überlegt:
»Willst du morgen wieder in den Keller?«, fragte er etwas zerstreut.
Virgínia überraschte der Feinsinn dieser Frage – wie sie ihn liebte, wie sie ihn brauchte, diese Augen, die sie denken sah, diesen starken, geraden und doch geschmeidigen Nacken. Und sie, die immer wieder versagte, dachte sie selbstkritisch und aufgewühlt. Aber nein, jetzt fürchte sie den Keller, sie habe einen Ohnmachtsanfall gehabt, als sie herauskam, Daniel, es sei gefährlich in die Tiefe zu denken, nein …
»Schweig, die Gesellschaft der Schatten wünscht, dass du eine andere Aufgabe erfüllst«, sagte Daniel schließlich, und seine Augen verfolgten konzentriert einen schwierigen Einfall.
Virgínia wartete, ohne zu atmen.
»Die Familie vom Bösen zu befreien.«
»Was für Böses?«, fragte sie sofort.
»Schweig, dummes Huhn. Die Gesellschaft der Schatten wünscht zu erfahren, ob du Esmeralda kennst. Sie wünscht zu erfahren, ob du von Esmeraldas Geheimnis weißt, von ihren Treffen im Garten mit diesem …«
»Aber das habe ich dir doch selbst erzählt, weißt du nicht mehr?«, unterbrach ihn Virgínia mit vorgeschützter Lebhaftigkeit, mit einschmeichelnder Stimme.
»Nun schweig endlich! Wage es nicht, mich zu unterbrechen,
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