Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
Vom Netzwerk:
bewusst, dass er sie schon gerufen hatte, während sie träumte. Sie nahm ein paar Stufen, blieb in der Mitte der Treppe stehen:
    »Du hast mich gerufen, Papa?«
    Esmeralda stand mit tränennassem Gesicht neben ihm, verunsichert, auf der Wange den roten Abdruck einer Handfläche – die Mutter verharrte ohne Halt auf der Schwelle und starrte in den Raum, mit dem grauen und langsamen Blick einer alten Maus. Virgínia sah sich nach Daniel um, vergeblich.
    »Sag nochmal, was du … was wir über diese Person gehört haben«, sagte der Vater.
    »Ach, Papa.«
    »Sag es nochmal.«
    »Papa.«
    »Sag es nochmal!«
    »Ich kann nicht.«
    Der Vater sah in die Runde, triumphierend, alt, finster. In diesen Momenten der Wut wirkte er dicker und kleiner.
    »Dann hör zu und sag, dass es genau so ist: Diese Herumtreiberin hier trifft sich im Garten mit irgendeinem Kerl.«
    Esmeralda schluchzte:
    »Aber da war doch nichts, und auch sonst nie … Ich hab’s doch schon geschworen!«
    »Herrgott!«, rief der Vater mit plötzlicher Beredsamkeit, »was hat ein armer Mensch getan, dass ihm zum zweiten Mal die bösen Geister ins Haus kommen! Was hat ein armer Mensch getan, dass er mitansehen muss, wie sein Leben und das des Hauses, das er errichtet hat, von der eigenen Tochter erniedrigt werden! Strafe mich, Herr, aber tue es so, dass es mich selber trifft!«
    Virgínia beobachtete ihn mit klarem Blick, die Augen beweglich und klug. Ihr ganzer Körper schmerzte vor Erwartung. Der Vater beruhigte sich jäh, wandte sich ihr zu:
    »Sag, dass es genau so ist.«
    »Das war sie?!«, schrie die Mutter.
    »Nein … nein!«, wimmerte Virgínia, weiß im Gesicht, und sah den Vater an.
    Der zögerte einen Moment lang, die Augen trübe und heiß:
    »Das spielt keine Rolle, wichtig ist allein, dass diese …«
    Schnelle Gedanken kreuzten sich in ihr, und bevor es jemand voraussehen konnte, stieß sie einen durchdringenden Schrei aus und ließ sich fallen. Der Vater fing sie auf, ehe sie die Treppe hinunterrollen konnte. Die Augen geschlossen, die Ohren hellwach auf das lauernd, was vor sich ging, spürte sie, wie sie nach oben getragen wurde in langsamem Flug. Sie lächelte innerlich, ohne zu wissen, warum, in diesem achtsamen Entsetzen. Die Anstrengung, die es sie kostete, nicht die Augen zu öffnen, sondern in ihrem leblosen Zustand zu bleiben, versetzte sie in solche Konzentration, dass sie eine Zeitlang nichts mehr hörte und aufnahm. Als sie die Augen einen Spalt öffnete, fand sie sich auf dem Bett im leeren Zimmer wieder. Tiefe Stille umhüllte das Haus, wisperte in den Ecken wie an einem Sonntag. Sie verharrte für einige Augenblicke fast abwesend, während es sanft in ihr pochte. In ihrem Körper erneuerte sich das Blut. Aus einem leichten Impuls heraus richtete sie sich auf, und schon stand sie an der Tür und sog die Luft ein: Wo steckten wohl die Leute? Nichts war zu merken, das Haus weit und nackt. Sie spürte sich lächeln und führte die Finger an die Lippen, obwohl diese geschlossen und schmal blieben und das Lächeln kaum mehr gewesen war als ein Gedanke. Ein Gedanke ohne Freude, der sie jedoch lächeln machte: Ihre Güte änderte nichts an ihrer Bosheit, ihre Güte änderte nichts an ihrer Bosheit. Sie hatte etwas Verdorbenes und Gemeines getan. Nie zuvor hatte sie allerdings das Gefühl gehabt, so frei und aus einem so unverfälschten Wunsch heraus gehandelt zu haben. Sie musste sich im Spiegel ansehen, oh, ja, dachte sie voller Dringlichkeit und Hoffnung. Sie ahnte, dass das Gästezimmer zu erreichen wäre, ohne gesehen zu werden. Rasch überquerte sie den Gang, die Schritte der nackten Füße gedämpft durch den purpurroten Teppich, das Herz schlug heftig und bleich.
    Da war sie nun also. Das Gesicht für einen Augenblick gleichsam ewig, das Fleisch auf mitfühlende Art sterblich. Da war sie nun, und die unschuldigen Augen spähten aus ihrem eigenen Verfall. Und solange es so blieb, wäre es nutzlos, aufhalten zu wollen, was um sie herum geschah. Und in ihr wäre es nutzlos, das Verständnis ihres Körpers wecken zu wollen, der im weit gespannten Nachmittag lebte. Niemals hätte sie wiedergeben können, was sie dachte, und was sie empfand, erreichte sie vergänglich, schwerelos und glänzend, so immateriell und flüchtig, dass sie bei keinem Gedanken hätte anhalten können. Überrascht, eingeschüchtert von der eigenen Unwissenheit, die neben einer unbeweglichen Gewissheit stand, so verharrte sie einen Moment lang in der

Weitere Kostenlose Bücher