Der Lüster - Roman
hatte keine Kraft mehr, ach, sie konnte nicht sprengen, was sie konnte. Da blieb nur, einen Moment lang die Augen zu schließen und für sich zu beten, roh, verächtlich, bis sie mit einem tiefen Seufzer Abschied nahm vom letzten Schmerz, dann endlich vergaß und weiterschritt zur Opferung ihres Schicksals. Wenn ich nämlich frei bin, wenn ich mit einer Geste alles erneuern kann – so schritt sie übers Feld unter einem weißlichen Himmel –, dann hindert mich nichts daran, diese Geste zu vollführen; das war die trübe, unruhige Empfindung. Während sie so lief, sah sie einen Hund, und mit schwer atmender Anstrengung, wie beim Verlassen eines geschlossenen Gewässers, wie beim Sprengen dessen, was man kann, beschloss sie, ihn zu töten, während sie lief. Er wedelte wehrlos mit dem Schwanz – sie dachte daran, ihn zu töten, und die Idee war kalt, aber sie hatte Angst, sich etwas vorzumachen und nur zu sagen, dass die Idee kalt sei, um ihr zu entfliehen. Da winkte sie den Hund mit sich, bis sie die Brücke am Fluss erreichten, und stieß ihn mit dem Fuß in den sicheren Tod in den Wassern, sie hörte ihn jaulen, sah ihn strampeln, mitgerissen von der Strömung, und sah ihn sterben – nichts blieb, nicht einmal ein Hut. Sie ging gelassen weiter. Gelassen setzte sie ihre Suche fort. Sie sah einen Mann, einen Mann, einen Mann. Seine lange Hose klebte am Wind, an den Beinen, den dünnen Beinen. Mulatte war der Mann, der Mann. Und die Haare, mein Gott, die Haare wurden schon weiß. Zitternd vor Ekel näherte sie sich ihm zwischen Luft und Raum – und blieb stehen. Auch er hielt inne, die alten Augen abwartend. Nichts in ihrem Gesicht ließ ihn vermuten, was nur darauf wartete, zu geschehen. Sie musste etwas sagen und wusste nicht, wie. Sie sagte:
»Nimm mich.«
Die Augen des Mulatten weiteten sich. Und bald, deutlich abgehoben gegen die reine Luft und den Wind, gegen das helle und dunkle Grün des Grases und der Bäume, bald verstand er und lachte. Er hob sie hoch, stumm, lachend, die Haare immer weißer, lachend, und dahinter erstreckte sich die Ebene unter dem Wind. Er hob sie hoch stumm lachend, ein Geruch nach abgelagertem Fleisch kam aus seinem Mund, aus dem Bauch durch den Mund, ein Hauch von Blut; aus dem aufgeknöpften Hemd ragten lange, schmutzige Haare, und ringsum war die Luft lebhaft, er hob sie an den Armen, und das Gefühl von Lächerlichkeit verhärtete sie wild – er schwang sie in der Luft hin und her, bewies ihr damit, dass sie leicht war. Sie stieß ihn heftig von sich, und er stumm lachend stumm ging los und zog sie mit und unbesiegbar küsste sie. Aber er lachte immer noch, als sie aufstand und ihm gelassen, wie um das Sprengen der Grenzen ihres Lebens abzuschließen, mit ruhiger Kraft auf das faltige Gesicht trat und über ihm ausspuckte, während er stumm, schauend, nicht verstand und der Himmel sich verlängerte zu einer einzigen blauen Luft. Sie erwachte sofort, und als sie die Augen aufschlug, stand sie fast schon, das Gesicht klar und aufgewühlt. Unbeweglich spürte sie den eigenen Körper zu Ende, groß, die Muskeln zahm und zufrieden. Sie merkte keine Steifheit, sondern eine Chance, sich im Gleichgewicht zu bewegen. Was war geschehen? Schnell verstand sie, war für einen Augenblick verwirrt und dachte, sie hätte tatsächlich das Haus verlassen, zögerte, erhaschte dann wieder eine vage Verständigkeit. Es war ein kurzer Traum gewesen, ausreichend, um sie die Grenzen ihres Lebens sprengen zu lassen. Geschwollene, langsame Empfindungen weiteten ihren Körper. Überrascht, wie im Schlaf wandelnd, ging sie hinüber zum Spiegel: Was war mit ihr geschehen? Es war da eine merkwürdige Uneindeutigkeit im Gesicht, wo das welke Auge immer träumte, eine Entschlossenheit auf den Lippen, als folgte sie der Unausweichlichkeit einer Halluzination. Ihr war, als wäre eine Zeit unzählbar abgelaufen, und sie erinnerte sich an das Haus, in dessen Mittelpunkt sie sich befand, wie an etwas Fernes. Eine süße Kraft beschwerte ihr die Hüften, verlängerte ihr den glatten Hals, den der große, unregelmäßige Ausschnitt erscheinen ließ. In gewisser Weise war sie nicht mehr Jungfrau. Mehr als geträumt hatte sie gelebt, sie hatte gelebt, das hätte sie aufrichtig geschworen, obwohl sie auch um die Wahrheit wusste und sie verachtete.
»Virgínia.«
Ihr Vater rief aus dem Esszimmer mit seiner Stimme, die nicht laut war, aber hörbar im ganzen Haus. In einer schwierigen Rückschau wurde ihr
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