Der Lüster - Roman
Schwebe, unterbrach die Bewegung ihres Lebens und besah sich im Spiegel: diese Gestalt, die etwas ausdrückte ohne Lachen, auf qualvolle Weise stumm und so in sich zurückgezogen, dass der Sinn niemals würde erfasst werden können. Indem sie sich ansah, würde sie doch nicht verstehen, allenfalls zustimmen. Ihre Zustimmung galt diesem tiefen Körper im Schatten, dem Lächeln ohne Worte, Leben, das gleichsam geboren wurde aus dieser Verwirrung. Jetzt schien ihre Freizügigkeit sich selbst gegenüber noch glühender, als ließe sie auch ihre eigene Zukunft zu. Und sie … aber ja, ja, sie sah die Zukunft … ja, mit einem Blick, der auch ein Hinhören war, in einem reinen Moment die ganze Zukunft … Wobei sie nur wusste, dass sie sah, nicht, was sie sah, so wie sie über das Blau nur hätte sagen können: Ich habe Blau gesehen, und nichts mehr … Mit hochgezogenen Brauen erwartete sie die schüchterne Verkündigung. Gegeben hatte es in ihrem Leben eine unbestimmte, unendliche Macht, wirklich unendlich und weit aufgerissen. Aber sie hätte niemals belegen können, dass es diese Macht gab, so wie es schwierig gewesen wäre, zu beweisen, dass sie den Willen hatte weiterzumachen, dass ihr die Farbe der Rose gefiel, dass sie Kraft spürte, dass sie mit dem Stein im Garten verbunden war. Was es gegeben hatte in ihrem Leben, unberührt und niemals gelebt, das hatte sie in die Welt erhoben wie eine Blase, die aufsteigt. Doch dann, nachdem etwas Bestimmtes getan worden war – der Blick an einem weiteren Tag in den Himmel? das Ausspionieren des Mannes, während er ging? der Eintritt in die Gesellschaft der Schatten? oder nach einem einfachen stillen Moment? –, nachdem etwas Bestimmtes getan worden war, das sich unmöglich aufhalten ließ, etwas vom Schicksal Bestimmtes und Rätselhaftes, sollte sie plötzlich nur noch dies oder jenes können, beendet war ihre Macht … Von nun an würde sie bezeichnen können, was sie konnte, und diese Fähigkeit verlieh ihr nicht etwa die Gewissheit einer größeren Kraft, sondern versicherte sie auf unerklärliche Weise eines Falls und eines Verlusts. Früher war ihre sicherste Lebensbewegung unvoreingenommen gewesen, da nahm sie Dinge wahr, die sie niemals verwenden würde, ein Blatt, das vom Baum fiel, würde den eingeschlagenen Weg abschneiden, der Wind verwischte auf ewig ihre Gedanken. Seit es aber die Gesellschaft der Schatten gab, war klar, dass sie aus jedem Blick raubte, was er ihr galt, und schön konnte nur noch sein, wonach es ihren Körper dürstete und hungerte; sie hatte Partei ergriffen. Auch hatte sie in letzter Zeit Daniel beobachtet. Und ohne es sich bewusst zu machen, sah sie, dass sein leichtester Stoff allmählich verdorben war, dass sich in ihm das süße Leid zerstört hatte, in dem sie beide lebten; in seinem Wesen war etwas ernster und unnachsichtiger geworden, eine zitternde Rohheit. Oder sah sie ihn etwa zum ersten Mal? Auch sie, obwohl sie weder verneinte noch bejahte, auch ihr Blick hob oder senkte sich angesichts gewisser Bilder wie von selbst, und sosehr ihr Wunsch war, niemals zu wählen, hatte sie doch schon verblüfft gewählt. Und sooft sie jetzt zögerte in ihrer Mutlosigkeit ohne Schmerz, wusste sie, wenn sie sich später wieder zur Freude erhob und ihr Herz öffnete, um von neuem zu atmen, lachend, ja, sie wusste: Niedergang und Wiederaufstehen waren nicht aufzuhalten. Die Gefahr war für immer vorbei. Plötzlich schienen die Worte, von denen sie in der Kindheit gelebt hatte, aufgebraucht zu sein, und sie fand keine anderen. Vorsichtig regte sie sich. Sie verspürte eine unruhige Reue darüber, dass sie diesen Moment lebte, dass sie fast eine junge Frau war und dazu diejenige, der dieser Augenblick widerfuhr – sie schien zu fühlen, dass sie aus einer tiefen, ungreifbaren Freiheit die Kraft schöpfen könnte, sich nicht zuzulassen. Sie beobachtete die stille, blasse Luft im Zimmer, ein Moment ohne Bewegung und Bestimmung. Wie unausweichlich es war, gelebt zu haben. Zum ersten Mal war sie gealtert. Zum ersten Mal hatte sie das Bewusstsein von einer Zeit, die hinter ihr lag, und die rastlose Vorstellung von etwas, das sie nie würde berühren können, von einer Sache, die nicht mehr ihr gehörte, weil sie abgeschlossen war, an die sie sich aber immer noch klammerte aus Unfähigkeit, ein anderes Leben zu schaffen und eine neue Zeit. Ihre gesamte Kindheit war durchzogen gewesen von der kalten Luft, die mit eisiger Glut in der Nase schmerzte;
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