Der Lüster - Roman
sie sah sich selbst wie aus der Ferne, klein, ihre Konturen dunkel im Nebel, der sich schon golden färbte von der Sonne, gebeugt, den Blick auf etwas am Boden gerichtet, das sie nicht mehr erfassen konnte; jetzt schien ihr eigener Atem sie mit einer lauen Hülle zu umgeben, die Augen öffneten sich zu weiter Farbe, der Körper richtete sich auf zu einem menschlichen Wesen. Mit einem Seufzer aus Ungeduld und Furcht bäumte sich ihr Körper wie besessen auf, dann verharrte er wieder reglos im Zimmer. Nachdem sie die Süße der Faszination erlebt hatte, der glühenden Ergebenheit gegenüber Daniel, sehnte sich ihre formbare, schwache Natur jetzt danach, sich der Kraft eines anderen Schicksals zu überlassen. Sie spürte, dass die Harmonie zwischen ihrem Dasein und dem Hof, auf dem sie geboren war und lebte, vorüber war; zum ersten Mal dachte sie an die Reise in die Stadt mit einer nervösen Lust voller Hoffnung und konfuser Wut. Brejo Alto, der morgendliche Nebel, die engen Gassen, die Einsamkeit von Granja Quieta hingen jetzt ständig und auf unbegreifliche Weise über ihr, und wenn früher die Stille der Felder und das unergründliche Geräusch des Waldes eine Fortsetzung ihrer eigenen Empfindungen gewesen waren, so würde sie sich jetzt durch kaltes, gleichgültiges Gelände bewegen müssen; sie dachte unruhig an die Regenfälle des kommenden Winters, als ahnte sie eine neue Verzweiflung darin, im Haus gefangen zu sein. Auf unerklärliche Weise hatte sie bisher geträumt, und erst jetzt schlug sie die Augen auf und stürzte sich damit in etwas Festes und Sterbliches – mit überraschtem Widerwillen erriet sie insgeheim, dass sie nun bekannter war, gleichsam wiedererkennbar. In einigen Jahren würde sie fortgehen mit Daniel. Jahre noch. Entschieden nahm sie sich vor, ihr Herz zu verriegeln und diese Jahre verschlossen zu durchqueren, um erst in der Stadt wieder zu leben – ihr Gedanke hinterließ einen bleichen Nachhall in der Luft –, wie viele Möglichkeiten hatte ein Mensch, wenn er in der offenen Welt lebte, ihr Körper erzitterte beinahe erschrocken über den eigenen Drang, über alles, was in ihrer Kraft an Unklarem war. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, einen Schrei der Freude und des harten Versprechens: Ah! Doch sie selbst dachte allenfalls die Oberfläche dessen, was ihr in diesen Augenblicken geschah, sie tastete nach sich selbst, als presste sie die Hand auf ihr Herz, das gleich losschlagen würde, und könnte es doch nicht berühren. Sie wartete einen Augenblick. Zunächst geschah nichts … Die Stille umgab sie ungreifbar, und da kam sie zur Ruhe, blickte in den Spiegel in düsterem Glanz. Hartnäckig starrte sie in das Gesicht, versuchte, den flüchtigen Zauber zu bestimmen, die Sanftheit der Atembewegung, die es langsam erleuchtete und erlöschen ließ. Der Verfall tauchte sie in süßes Licht. Da war sie nun also. Da war sie nun also. Niemand würde sie retten oder zugrunde richten. Und da, die Momente entfalteten sich und starben, während ihr Gesicht still und stumm in der Luft hing, erwartungsvoll. Da war sie nun. Erst gestern hatte die Lust am Lachen sie dazu gebracht, zu lachen. Und vor ihr erstreckte sich die gesamte Zukunft.
NACH SO VIELEN TAGEN , an denen sie das Haus nicht verlassen und Vicente kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte, suchte sie den Sonntag, um sich etwas zu erholen und nicht blass und kaum wiederhergestellt zu Irenes Abendessen zu erscheinen. Die frische Luft nach all den zähen Stunden im zerwühlten Bett weckte ihre Haut mit einem undefinierbaren, starken, auf schüchterne Weise herben Geruch. Dem Duft, den die Hitze in üppigen, grünen Pflanzen wachruft – aber sie war nur wenig lebendig, und obwohl ihr der Spaziergang ein vages Lächeln zuwehte, wurde sie rasch müde.
Sie ging den Hügel hoch auf der Suche nach dem Staudamm, wo die Wassermassen gefangen lagen, gepresst zu so inniger Verbindung, dass ihr raues Wispern die Dringlichkeit eines Gebets hatte. Gräser bogen sich unter dem eigenen Gewicht, beugten sich auf dem engen Pfad unter ihren Füßen. Sie rückte den kleinen braunen Hut zurecht, während sie sich mit der anderen Hand auf den langen schwarzen Regenschirm stützte. Nachdem sie sich den steilen Hang hochbemüht hatte, sah sie über sich nur eine dünne Linie Erde, die sich neu und klar mit dem Himmel verband; die hohen Grashalme wiegten sich gegen das kühle Rosa der Luft. Beim Staudamm wohnte der Wärter, ein Mann mit trockener,
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