Der Lüster - Roman
abzuschließen, das alle anderen bereits diskret zu Ende gebracht hatten … war es das? er, er – warum dachte sie es nicht frei heraus?, schalt sie sich erschrocken – er, fuhr sie folgsam mit dem Gedanken fort, den sie schon kannte, er hatte wirklich ein hartes und komisches Leben.
»Danke …«
»Aber Virgínia …«, Vicente ließ hässlich die Zähne blitzen, »wie viele Gläser hast du schon getrunken …«
Sie lächelte nicht, Vicente wandte den Blick ab, Adriano beobachtete die beiden, die Situation genießend, es wurde geredet und geraucht, sie trank. Es war Anislikör. Die Flüssigkeit war zäh wie etwas Lauwarmes, in der Kindheit hatte es Anis als Bonbons gegeben. Immer noch derselbe Geschmack, der an der Zunge klebte, die Kehle wie ein Fleck, dieser traurige Weihrauchgeschmack, jemand, der etwas Begräbnis schluckte und etwas Gebet. Oh, die ruhige Traurigkeit des Erinnerns. Er war wild und gebändigt zugleich, ein Geschmack, rötlich, einsam, ordinär und feierlich. Der Vater brachte Anisbonbons aus dem Städtchen nach Hause! Sie lutschte sie allein auf der Welt mit ihrer Liebe zu Daniel, eins pro Tag, bis sie aus waren, angeekelt und mystisch, so geizig, so geizig, wie sie war. Sie trank den Likör genüsslich und wehmütig – versuchte wieder, an die Kindheit zu denken, und wusste schlichtweg nicht, wie sie sich ihr annähern sollte, so sehr hatte sie jene Zeit vergessen und so vage und gewöhnlich schien sie ihr –, wollte den Anis fixieren, wie man einen unbewegten Gegenstand ansieht, wurde aber kaum seines Geschmacks habhaft, da er dahinfloss, verschwand – und so erhaschte sie die Erinnerung wie ein Glühwürmchen, das einfach nur verschwindet … ihr gefiel die Vorstellung vom Glühwürmchen, das einfach nur verschwindet … und sie bemerkte, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben an Glühwürmchen dachte, und dabei hatte sie so lange in ihrer Nähe gelebt … verwirrt sann sie kurz über den Genuss nach, den es bedeutete, an etwas zum ersten Mal zu denken. Das war es, Anis rötlich als Erinnerung. Verstohlen behielt sie einzelne Schlucke im Mund, um des Anis habhaft zu werden, ihn mit seinem Duft zu greifen; auf unerklärliche Weise weigerte er sich, zu riechen und sein Aroma freizugeben, solange er unbewegt blieb, und ihr Mund wurde vom Alkohol taub und warm. Besiegt schluckte sie die gealterte Flüssigkeit herunter, der Likör rann ihr die Kehle hinab, und sie stellte überrascht fest, dass er während einer Sekunde ›Anis‹ gewesen war, solange er durch die Kehle glitt, oder hinterher? oder davor? Nicht ›während‹, nicht ›solange‹, sondern stärker gebündelt: Er war eine Sekunde Anis gewesen, wie die Nadelspitze sich gegen die Haut drückt, nur dass die Nadelspitze ein stechendes Gefühl vermittelte, der flüchtige Geschmack des Anis hingegen weit war, ruhig, unbewegt wie ein Feld, ja, wie ein Anisfeld, als sähe man auf ein Feld aus Anis. Ihr schien, als schmeckte man den Anis nie, sondern hätte ihn schon geschmeckt, nie in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit: Wenn dies geschah, dachte man eine Weile darüber nach, und dieses Nachdenken darüber … war der Geschmack des Anis. Sie bewegte sich auf einmal in einem vagen Siegesgefühl. Mit jedem Mal verstand sie den Anis besser, so sehr, dass sie ihn kaum noch mit der Flüssigkeit in der Kristallkaraffe in Verbindung bringen konnte – Anis existierte nicht in dieser ausgewogenen Dichte, es sei denn, sie teilte sich in Partikel und breitete sich als Geschmack auf die Leute aus. Anis, dachte sie zerstreut und sah durch die offene Tür einen kleinen Ausschnitt vom Esszimmer und in dem Ausschnitt ein Rechteck vom Gläserschrank und auf dem Gläserschrank den Teller mit dem künstlichen Obst, strahlend, glatt und plump vor Lack. Schon jetzt begann ein fast stilles Gefühl zu folgen, so instabil, dass sie vorsichtig darauf zu achten haben würde, es sich nicht bewusst zu machen. In just diesen Augenblicken lebte ihr Körper voll und ganz in dem Gesellschaftszimmer, so sehr erriet sie die Notwendigkeit, den im Halbdunkel errichteten Beginn mit Einsamkeit zu umgeben. Sie trug eine ruhige und harte Klarheit zur Schau, sprach niemanden an und überließ sich wachsam wie einem Traum, den man vergessen wird. Hinter sicheren Bewegungen versuchte sie mit Gefahr und Feinsinn, gerade das Leichte und Flüchtige zu berühren, den Kern zu finden, der aus einem einzigen Augenblick besteht, solange sich die Eigenart nicht
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