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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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dachte, mit der Vorlage zu vergleichen. Was ihn an ihr erregte, war das Ordinäre, so wie bei einer Prostituierten die Lasterhaftigkeit erregt, in gewisser Weise schien sie aus ihrer Ähnlichkeit zu anderen gemacht. Er streifte sie kurz mit seinem klugen Blick und sah sie im Profil, von neuem einfältig, ein wenig eitel, das Kinn auf der Brust und mit beiden Händen die Blumen am Dekolleté zurechtrückend. Die Wirklichkeit schien über sie alle zu lachen. Er genoss die Situation. Ihre Kleidung gab Virgínia etwas Lächerliches, sie erinnerte an einen mit Stoff behängten Baum, an eine Frucht, durchstochen von einer Brosche. Sie wirkte nicht wie eine Frau, sondern so, als ahmte sie die Frauen nach, sorgsam und unruhig. Und sie ging einem auf die Nerven; ihm allerdings nicht, ihm nicht – er lachte mit stillem, scharfem Vergnügen. Die Wirklichkeit lachte über sie alle. Virgínia zupfte mit sämtlichen Fingern an den Blumen. Ihre wenig gegenwärtigen Lippen verbargen sich in den Schatten, die sich aus ihrer Kopfhaltung ergaben. Die Brüste stauten sich, zusammengeschnürt von der Kleidung, die Hüften weiteten sich erschöpft, ohne Schönheit. Er sah sie an, den schmalen Kopf vorgeschoben, die Augen beweglich, auf schnelle Weise interessiert und kalt. Er schloss die Lippen; mit einer kleinen Anstrengung konnte er wie bei einem Experiment eine aufrichtige falsche Grausamkeit für sie empfinden, eine gewisse Verachtung. Virgínia drehte das Gesicht und sah ihn an. Er gefror in seiner Elfenbeinfarbe, ertappt inmitten des Spiels. Beide musterten einander lange, ohne Interesse; das Herz des Mannes klang schwer und unbekannt.
    »Ist dir das schon aufgefallen, Adriano, wenn viele Leute in einem Salon zusammenkommen, dann denken sie mit der Zeit ganz ähnlich? wenigstens im Ansatz … Gerade hat der dicke Herr etwas gesagt, dass auch ich gerade fast gesagt hätte … Scheint, wir erraten es mit der Zeit, stimmt’s? Aber nicht immer, weil am Ende« – sie schien in ihrem Gedächtnis zu forschen und fuhr nach kurzem Zögern mit einem gewissen Nachdruck fort – »weil am Ende alles relativ ist … Ich habe das schon immer gedacht, alles, alles ist relativ, findest du nicht? Nicht immer, natürlich hat jede Regel ihre Ausnahme … klar, das muss man gar nicht erst sagen …«
    Er lachte, alle Zähne erschienen ohne Laut. Sie wandte das Gesicht ab, sah auf Neues. Dann ging sie zum Sessel und setzte sich. Den ganzen Abend lang hatte sie den Sessel von weitem beäugt und sich unauffällig gewünscht, darauf Platz zu nehmen. Tatsächlich lebte sie immer schon wie am Rand der Dinge. Der Sessel war lang, schmal und grün, aber nicht laubgrün, nicht einmal grün wie altes Laub; es war ein Grün voller Ressentiment und innerer Ruhe, in sich selbst angehäuft im Laufe der Jahre; auf den Armlehnen hatte sich die Farbe diskret zurückgezogen, und ein fast brauner Untergrund stach heraus, sanft und leidgeprüft von der ständigen Reibung; tatsächlich war es ein ausgezeichneter Sessel, man hätte darin schlafen können, einen unklaren, milchigen Schlaf – Müdigkeit und Trauer überkamen sie. Irenes Salon im Ganzen hatte einen schwindelerregend grünlichen Ton, blass und verderblich – Vicente lachte. Sie lächelte allen zu, Vicente redete, mit der zynischen Ausstrahlung dessen, der schon sehr lange lebt.
    »Er hat etwas Weibliches an sich oder jedenfalls etwas, das unter Frauen weit verbreitet ist. Er denkt in Bewegungen, seine Gedanken sind so primitiv, dass er sie als Handlungen ausführt … Weißt du noch, Adriano« – wie er das aussprach, Adriano  … –, »an dem Abend? Er trat ins Wohnzimmer, und wie er uns versammelt sah, kam er sich überflüssig vor und ging wieder. Zu alldem war er ohne große Abstraktion gelangt, eine kleine Geste, ein winziges Zeichen markierte jede neue Stufe, die der Verstand erreichte. Daniel« – er wandte sich plötzlich Virgínia zu, die aufschrak und rasch in die Runde sah – »Daniel würde in dem Fall sagen: Ich hasse Leute, die mich nötigen, die Zuckungen ihrer Intelligenz mitzuerleben …«
    Alle lachten, sie lächelte, als wäre sie Daniels Mutter und hätte ein Anrecht auf schüchterne Zurückhaltung. Aber von einem Moment auf den nächsten kam ihr in den Sinn, dass sie über Daniel lachten – sie errötete heftig –, gerade über das lachten, was sie selbst … nein, sie hätte niemals gelacht, aber … ja, Daniel hatte manchmal so eine Art, etwas laut

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