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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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auf Dingen niederlässt, solange das, was tatsächlich ist, nicht aus dem Gleichgewicht stürzt ins Morgen –, und da ist ein nach vorne gerichtetes Gefühl und ein anderes, das zerfällt, schwacher Triumph und Niederlage, vielleicht auch nur das Atmen. Das Leben im Werden und die Entwicklung des Seins ohne Schicksal – das Fortschreiten des Vormittags, der sich zum Abend nicht hinbewegt, sondern ihn erreicht. Unvermittelt vollzog sie eine fast brüske innere Geste oder sah das schlafwandlerische, strahlende Lächeln von Maria Clara, und alles in ihr verlor sich in untertauchenden Schatten, die diffusen Bewegungen hallten noch nach. Sie wollte ihren gewundenen Weg durchs Dunkel wieder aufnehmen, aber sie hatte ihre Schritte vergessen mit dem Schwindelgefühl einer weißen Rose. Sie hatte vergessen, an welchem Ort in ihrem Körper die Vorbereitung darauf erfolgt war, sich wundern zu können. Zurück blieb ein Gefühl von Unentschlossenheit ähnlich dem Versprechen einer Offenbarung … ein Tag, an dem sie wollen würde mit wahrer, wirklicher Kraft … ach, hätte sie doch nur Zeit. Aber wann würde sie im Leben über eine so machtvolle Sorgfalt verfügen, dass sie durch Wünsche erringen könnte, was ihr auf rätselhafte Weise spontan gekommen war. Geblieben war ihr eine Empfindung von Vergangenheit. Auf einmal wusste sie nur, dass etwas geschehen war, weil sie selbst in diesem Moment als materieller Beweis in dem Sessel saß. Sie kehrte ins Leben zurück, die Tatsache, dass sie im Sessel saß, als Ausgangspunkt. Abwesend starrte sie mit geradezu entsetzter Beharrlichkeit hinter einen der Stühle, ihr schien unmöglich, aus ihrem seltsamen Schlaf geweckt zu werden. Und da alle für einen Augenblick verstummt waren und eine Gesprächspause eingetreten war, sahen sie sich um, entdeckten sie und lächelten überrascht und ironisch. Virgínia hatte einen absurden Ausdruck angenommen, die Augen starr, die Lippen verquollen, und ihr Gesicht schien in unmerklicher Schwingung zu summen. Doch als hätten sie ein wenig zu lange in starkes Licht geschaut, schien der Raum sich unter einer düsteren Wolke zu verdunkeln, ein Versagen des Blicks, und ein blasses Innehalten des Lebens weitete sekundenlang ihre Pupillen.
    »Virgínia ist heute Abend aber schweigsam«, sagte Irene lächelnd, schnell wach geworden. Ihre Funktion schien darin zu bestehen, die anderen munter zu machen. Alle kamen mit einer leichten Bewegung, einem Seufzen wieder zu sich.
    »Ach, das ist nicht nur heute so«, erwiderte Vicente mit falscher Fröhlichkeit, »sie ist, wie sagt man das?, eine ernste Natur …« Alle lachten, und so wies er sie öffentlich zurück und lehnte unmissverständlich die Verantwortung dafür ab, dass es sie gab. In einer abgedunkelten Ecke des Salons wurde eine Schallplatte aufgelegt, und sie hörte, wie die Musik sich über die Geräusche hinweg entfaltete, sie, die sich sonst doch nie um Musik kümmerte. Plötzlich erhoben sich die Klänge harmonisch, laut, keusch, frei von Traurigkeit. Die Klänge waren stark mit sich selbst verbunden, sie fielen zuweilen mit einer geradezu schweren Fülle, die allerdings nicht komplex war, vergleichbar nur dem Geruch nach Meer, dem Geruch nach totem Fisch – getroffen schloss sie die Augen, erduldete etwas Süßes, Stechendes und voller Freude: Nein, es war nicht wie Liebe, weder ein hilflos sich Wälzen im Ekel des Begehrens noch ein niederträchtiges Lieben der eigenen Todesqual. Es war Schmerz, aber keiner, wie er von jenen unterbrochenen, unmöglichen Wegen aufstieg – wie die Dinge sich selbst zufielen, wahrhaftig wurden, endlich wahrhaftig, o Gott, Gott, steh mir bei. Das war die Empfindung: O Gott, steh mir bei. Ihre Verzweiflung überstieg auf rätselhafte Weise die Bitterkeiten des Lebens, und ihre geheimste Freude entging dem Genuss der Welt. Dieser intime Eindruck von Fremdheit. Wie neu das war, wie sie sich von ihnen allen befreite, von der eigenen Liebe zum Leben, ruhig und ohne Glut.
    »Ich drehe mal die Platte um …«
    Sie schlug die Augen auf, die für einen Moment lang geschlossen gewesen waren, sah sich selbst im Sessel sitzen in stiller Haltung, den Körper in sich verschlossen. Mehrere Leute bewegten sich, durchdrangen sich leuchtend. Mit ihrem krummen Rücken hätte sie nicht für eine griechische Statue posieren können, aber sie war auf tiefe Weise Frau, und ein Gefühl von Unwirklichkeit nahm von ihr Besitz. Auf einmal – als sähe sie etwas lautlos

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