Der Lüster - Roman
tiefsinnigem Gemurmel, gleichsam schläfrig durch die Mühen. Ringsum herrschte Stille; Virgínia stützte den Kopf in die Hände, ohne Anstrengung, feinsinnig. Am dritten dieser Abende hatte sich eine Aufrichtigkeit voller Hoffnung zwischen ihnen eingestellt, und Virgínia lauschte der Lektüre mit halb geöffneten Lippen wie einer Geschichte. In einer Passage spürte Jesus, wie ihn in der Menge eine Kranke berührte, und seine Jünger sagten zu ihm: »Du siehest, dass dich das Volk dränget, und sprichst: Wer hat mich angerührt?« Und er erwiderte: »Ich spürte, wie eine Kraft von mir ausging …« Diese Passage wurde zu einem neuen Leben für sie, sie seufzte tief wie vor einer Unmöglichkeit; versunken, den Kopf geneigt, dachte sie nach. Ach, was für ein Wunsch nach Ironie und Güte in ihr war, gleich einem Wunsch zu reisen; wie offen ich bin! Da erschrak sie und tauchte sich in matte Seligkeit. Aber das war nicht meditieren, wie Miguel es verlangte – in Wahrheit überlegte sie nicht und zog keine Schlüsse – sie dachte in der Geschichte an sich, wiederholte sie unter Blicken, Schatten, Einwilligungen und Stürzen. Vage stellte sie es sich so vor: Aber ich habe doch auch … Jetzt erkannte sie einen Sinn in einer Kindheitserinnerung, der ihr ohne die Abende vielleicht für immer verschlossen geblieben wäre: Als kleines Mädchen konnte sie die Augen schließen und das Licht ganz langsam von innen nach außen sickern lassen – aber wenn ihr einfiel, die Augen plötzlich zu öffnen, verlor alles an Klarheit, sie wurde müde, ja, kraftlos. Miguel gestand mit einem gewissen Widerstreben, auch er spüre eine Ähnlichkeit zwischen Jesus und sich. Eines Abends erzählte er Virgínia ein wenig enttäuscht und verärgert, er habe mit dem Pastor gesprochen und ihm von den Bibelabenden erzählt. Mit Überraschung und Bedauern hatte er ihn sagen hören: »Mein Sohn, dieser Ihrer Lektüre fehlt es an Religion … Bei den Bemerkungen, die Sie beide machen, und der Art, wie Sie hören … Es ist fast ein Sakrileg, die Bibel so zu lesen … Die Lektüre sollte in größerem Ernst und in Meditation erfolgen – ich bestehe auf diesem Wort, Meditation. Nun gehen Sie, mein Sohn; die Mühsal kommt vom Himmel; gehen Sie zurück und lesen Sie wie einer, der studiert. Meditation – ich bestehe auf diesem Wort – Meditation.«
Die zwei saßen nachdenklich da. Kurze Zeit später, ohne jede Absprache dazu, unterbrachen sie ihre Sitzungen für immer. Bis sie ihn eines Tages zum Abendessen einlud. An diesem Tag erwachte sie früh, entschlossen, ruhig und fröhlich. In der Woche zuvor hatte sie ihre monatliche Zuwendung erhalten – sie ging aus dem Haus, kaufte Fleisch, Blumen, Eier, Wein, Marmelade, Reis, Gemüse –, so lange schon war ihre Küche sauber geblieben, summten Fliegen hungrig in der Sonne. Überrascht und mit aufgesetzter Geringschätzung kaufte sie für sich einen Steckkamm in Form einer Schildkröte. Erhitzt im Gesicht, die Arme voller Päckchen machte sie sich auf den Heimweg – sie spürte, dass sie in diesem Moment einer der wahrhaftigsten Menschen war, die sie überhaupt sein konnte, sie sah das an den natürlichen und direkten Blicken der anderen. Trug sie nichts in den Armen, begegneten sie ihr mit größerer Fremdheit. Sie wusch das Fleisch, unterbrach beschämt und mit kameradschaftlicher Rücksichtslosigkeit das leichte Lied auf ihren Lippen, das Gesicht gerötet, sie salzte das Fleisch, kochte seufzend Reis mit Tomaten. Sie fühlte sich gut, leidenschaftlich gut, als zeigten sich die Dinge von ihrer tiefsten und edelsten Seite. Sie formte Kroketten aus Karotten und Ei, rollte den Teig mit den innigen Fingern einer Frau, die Brauen gerunzelt – gerne wäre sie klein gewesen und hätte sich neidisch zugesehen, wie sie in der Küche hantieren durfte. Sie bereitete einen Nachtisch vor, der bebte vor Sahne und Marmelade, die Küche und das kleine Wohnzimmer lebten voller Bewegungen, ihr war, als würde sie gleich mit sich selbst zusammenprallen. Um zwei Uhr nachmittags fühlte sie sich hungrig und schwach; sie ging nicht gern ins Restaurant, noch immer schämte sie sich ein wenig, vor anderen zu essen. Heute aber war sie ein derart beschäftigter Mensch mit so vielen Verpflichtungen, hatte eine Wohnung, in der Ordnung zu schaffen war, eine Küche, in der es zu tun gab – da lag auf der Hand, dass sie jetzt nicht zimperlich sein durfte, dachte sie besorgt. Sie zog sich etwas über, ging in
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