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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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zu fliehen, nach Menschen zu suchen, denen sie nichts geben könnte. Vor allem war sie nicht eine von denen, die Kinder haben. Und falls sie doch einmal welche zur Welt brächte, wäre sie immer noch eine von denen, die keine Kinder haben. Und wenn das ganze Leben, das sie lebte, von dem abwich, das sie hätte leben sollen, sie wäre doch so, wie sie hätte sein sollen – was sie hätte sein können, das war sie zutiefst, auf unsagbare Weise, nicht aus Mut, nicht aus Freude und nicht weil ein Gewissen ihr das diktierte, sondern aufgrund der unausweichlichen Kraft des Daseins. Nichts raubte ihr die Einheit ihres Ursprungs und die Eigenart ihres ersten Atemzugs, selbst wenn beide sich begruben unter ihrem genauen Gegenteil. In Wahrheit wusste sie wenig über das, was sich unter dem Leben verbarg, das sie offensichtlich hatte. Aber nicht sich aufzulösen, nicht sich herzugeben, die eigenen Irrtümer zu bestreiten, ja, niemals zu irren, sich zu bewahren in einem intimen Glanz – all das war zerbrechliche Inspiration, zu Anfang und unvergänglich, für ihr Leben. Einmal hatte sie ein Nachbarkind berührt; das Kind hielt ihr das Händchen hin, während es durchs Fenster schaute. Nach und nach, den Blick hart und amüsiert, mit einer leichten Aufregung im Körper, fasste sie das kleine Fleisch voller blinder, weicher Finger und drückte es zwischen ihren Händen, das Kind merkte es nicht einmal, es sah aus dem Fenster. Virgínia hielt einen Augenblick inne, damit keine allzu große Vertraulichkeit aufkam und sie noch weiterging. Dann wurde sie immer munterer, erzählte eine Geschichte, dachte sich etwas Lustiges aus, etwas wirklich Lustiges, das Kind lachte ein wenig, ihr eigenes Gesicht, das sich in einer der Scheiben spiegelte, dehnte sich aus, glänzend, leuchtend, seiner selbst nicht bewusst, Bewegung, lebendig und schüchtern. Schließlich ging das Kind, als wenn nichts gewesen wäre. Eine fruchtbare Frau war so verletzlich, ihre Zerbrechlichkeit kam daher, dass sie zeugungsfähig war. Sie selbst spürte manchmal eine Ekstase aus Schwäche, Müdigkeit, aus einem tiefen Lächeln und einer mühevollen, oberflächlichen Atmung; es war eine tiefreichende, blinde Möglichkeit, die sich am Ende in einem Seufzen löste und einem schnellen Wohlgefühl, einem blassen Schlaf voller Erschöpfung und wirrer Träume, sie schien darin schreien zu wollen, sich von den Laken befreiend: Meine Fruchtbarkeit drückt mir die Luft ab. Hätte sie ein Kind, sie stünde unter ständiger Anspannung. In jeder Sekunde würde sie erwarten, dass es sich Bohnen in die Ohren stopfte, mutwillig und schlau, wie es das Fingerchen in die Steckdose schob. Und in jeder Sekunde würde sie dünn und nervös für das Wunder danken, dass nichts geschah – denn sie wäre dünn und nervös. Bis sie, gewöhnt an gesittete Abläufe, endlich Frieden fände, bei Tee und Kuchen, das Stickzeug in den Händen. Und dann liefe das Kind schnurstracks zur Steckdose. Allein ihre Angst verhinderte Katastrophen, allein ihre Angst. Sie warf ihren grauen Wollumhang über, ging in den Tierpark. Die Affen taten nichts, sie lausten sich, schauten umher, hängten sich blinzelnd an die Gitterstäbe, gestikulierten, schauten wie sanfte Huren. Sie trat zu dem Tiger, atmete die Hitze und den Gestank aus dem Käfig; das eigene Schicksal bezwingend, nötigte sie sich hinzusehen, allein auf der Welt, sah dem Tiger ins Auge, sah seinen wiegenden Gang, erhob sich dabei über den Schrecken, bis von ihm eine Art Wahrheit ausströmte, etwas, das sie besänftigte wie ein Ding, sie seufzte, kniff die Augen zusammen. Dieser widerwärtige Geruch nach Müdigkeit tat ihr gut, sie biss auf die Zähne, die Zähne einer Frau. Der Oberaufseher sagte zu ihr:
    »Manche Besucher muss ich rauswerfen oder festnehmen. Stellen Sie sich vor, gnädige Frau, es gibt Männer, die stecken sich eine Zigarette an, nehmen einen Zug und halten sie dem Tier an die Schnauze.«
    Sie sagte: »Wie furchtbar«, aber ihr Körper bewegte sich ruhig in sich, eilig und dunkel. Die Weibchen lachten still, voller Freude und Torheit, aber ein Schild warnte, sie seien gefährlich. Sie machten nicht den Eindruck, mit ihren feinen, sehnigen Hälsen, die direkt an die breiten Hüften anschlossen, deren viele, gelassene Bewegungen. Virgínia spazierte langsam umher, die Absätze ihrer Schuhe versanken im Matsch, es war Winter, die Stille des leeren Parks, nur das eine oder andere leise Tiergeräusch, der hohe Schrei eines Vogels.

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