Der Lüster - Roman
blieb die Wärme von Vicentes Wohnung abrupt hinter den Mauern, und bald lag vor ihr der Gehsteig, ruhig und duftig in seiner Kühle. Die Lichter blinkten in zitterigen Kegeln, so verständigte sich ein goldener Laternenpfahl von weitem mit dem nächsten. Sie überquerte die trockene Straße, ging an den dunklen Häuserwänden vorbei, stieg in den Bus, und der Wind war leicht auf ihrer Wange. In dem hellen, lauen, holpernden Inneren des Fahrzeugs sah sie die Gesichter unter Hüten, verdichtet in der Stille der Reise durch die Nacht, und hinter jedem einzelnen von ihnen schien das Leben für einen Augenblick hinter die Bühne verbannt zu sein, der Zuschauerraum leer im Halbdunkel – der Bus fuhr immer weiter. Der Fahrer hatte die Hand am Lenkrad, fast reglos, langsam, der beleuchtete Kokon schien sich von selbst zu bewegen. Virgínia stieg aus, stapfte los in den großen, nutzlosen Gummistiefeln, die sie an den Füßen drückten. Auf der menschenleeren Straße trafen ihre Schritte klangvoll und hoffnungsfroh auf den Gehsteig. Der Mondschein glitt über die Gebäude. Die Erinnerung an Granja Quieta spülte über sie hinweg, an den fahlen, schlaflosen Hof in Nebelschwaden, und sie beschleunigte den dunklen Schritt, setzte ihren Weg fort. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, sanft gab die Tür nach, und die hohe, blasse Treppe zeichnete sich einen Moment lang recht klar vor ihr ab; als sie den Fuß vorsetzte, änderte sich das sogleich. Ihre eigene Gestalt schob sich vor und füllte den engen Gang – langsam ging sie nach oben, sah dabei die Stufen halb dunkel, halb hell, bis sie sich in der wirren Höhe des Hauses verloren. Schließlich erreichte sie den Treppenabsatz, die Treppe und die Straßen blieben zurück, erstarrt in der Stille für eine ganze Nacht, bis der Morgen käme und jemand erneut die Luft bewegte. Im erleuchteten Zimmer streifte sie die Gummistiefel ab, besah sich die Zehen, zusammengepresst wie kleine, zerquetschte Vögel. Mit langsamen Händen zog Virgínia sie auseinander, glättend. Wie gerne sie in ihrem Zimmer war: Sie roch dessen Tunnelgeruch schon im Näherkommen und war richtig tief drin, sobald sie eintrat. Ihr fiel auf, dass sie vor dem Verlassen der Wohnung vergessen hatte, die Fenster zu öffnen, und ihr eigener Geruch drang aus jedem Winkel – als käme sie von draußen wieder und träfe auf sich selbst, die schon zu Hause wartete. Sie öffnete die Fenster, und eine Luft, kalt von Himmel und von frischem Wasser, rauschte klar um die Dinge herum und erneuerte sie. Virgínia zögerte ein wenig, versuchte, sich mit ihren Dingen zu verbinden, in den Gegenständen ein Zeichen zu sehen, doch bald spürte sie, dass es vergebens sein würde, dass sie freigelassen war und ihre Umrisse ruhig. Sie beugte sich für einen Moment aus dem Fenster und bot das Gesicht der Nacht, angespannt und wonnig, die Augen halb geschlossen: Die nächtliche, kühle, von Düften durchzogene gelassene Welt bestand aus ihren schwachen, ungeordneten Empfindungen. Oh, war das seltsam, seltsam. Sie fühlte sich gut und wusste dabei, dass sie vorher fast erstickt war, ihr schien, in der Nacht beginne das Wasser der Welt zu leben – sie atmete, und die Erleichterung war fast heftig, vielleicht der stärkste Augenblick des Tages; immer schon hatte ein Moment sie gerettet, eine Geste half ihr, sich nicht verloren zu fühlen, und veranlasste sie, sich zum nächsten Tag hin zu lehnen. Gelassen und sorgsam zog sie sich um. Dann legte sie sich mit tiefer Eigenliebe ins Bett. Sie konzentrierte sich für einen Augenblick, bis sie ein fernes, klares, zerbrechliches Zirpen hörte, die Grille, glänzend. Ihr eigener Geist hatte sich ihrer bemächtigt. Sie seufzte. Oh, Gott, es war seltsam, wie sie keinerlei Eile empfand. Im Grunde war sie erschreckend ruhig. Beiläufig dachte sie an den kommenden Morgen. In der Stadt mochte die Stille die nächstgelegene Luft sein, doch dahinter lebte stets ein Geräusch. Man wurde wach, hörte dieses ständige sanfte Knistern von Papier, das die Stille war … Man hörte eine kleine Flöte und eine kleine Trommel, beide frei, wer weiß wo in der Luft, sie klangen von fern, klar und gutgelaunt – und man wusste, auf einem Kasernenhof exerzierten Soldaten in der Sonne. Aber jetzt war es Nacht, sie hatte gerade erst die letzten, hohlen Schritte über den im Schatten liegenden Gehweg getan. Sie tauchte in der Müdigkeit unter, suchte danach. Ihre Müdigkeit hatte etwas von einer Blume, ein
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