Der Lüster - Roman
Ihre Schritte auf den breiten, von Käfigen umstandenen Freiflächen waren vorsichtig. Sie kam an der reglosen, kalten Schlange vorbei, das Herz trocken vor Mut. Eines Tages hatte es zu regnen angefangen, nass hatte sie die unruhigen Tiere in den Gehegen betrachtet, in den Pfützen sangen die Regentropfen. Der samtschwarze Jaguar streckte die Läufe, die Pfoten trafen den Boden und lösten sich wieder, ein weicher, schneller und lautloser Gang. Das Weibchen, die Schnauze vom liegenden Körper erhoben, keuchte abwesend und satt, die grünen Augen geweitet. Der Aufseher zeigte ihr die offene Wunde auf seiner Handfläche, die habe ihm der Jaguar gerissen. Aber es gebe da eine zahme Tigerin, die lasse sich vorführen, gnädige Frau.
»Ich wasche mir schnell die Hand, mit der ich das Fleisch angefasst habe, sonst riecht sie es, und dann greift sie an.«
Er erzählte ihr, dass er den Käfig immer mit einem Messer betrete, das dürfe der Direktor aber nicht erfahren, ja? Das Geheimnis machte sie leicht schwindelig, sie schloss für einen Moment die Augen. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht verstand, hielt er ihr das Messer hin: Fassen Sie mal an! Warum denn das?, fragte sie sich erschrocken, berührte kurz die kalte, glänzende Klinge, die die Regentropfen zu meiden schienen und die ihr einen Geschmack nach Blut im Mund hinterließ, während sie mit offenen Augen, das Gesicht fast zur Grimasse verzogen vor Abscheu und Schrecken, weiterlächelte. Das Wasser lief den Regenschirm herunter. Und wenn sie Vicente davon erzählte … Sie verspürte den Drang, ihm davon zu berichten. Aber was sie ihm hätte erzählen können, das kannte sie so gut, wie sie in sich die Empfindungen kennen mochte, wenn sie lange in ein durchsichtiges Wasserglas sah; die Empfindung lag anscheinend im Wasserglas selbst. So war der Drang, sich ihm zu offenbaren, das einzige Gefühl, das es gab, die einzige unruhige Wirklichkeit. Was also erzählen? Sie erinnerte sich auch daran, gleichsam rechtzeitig, dass Mitgefühl bei Vicente fast enttäuschend war. Nein, sie würde ihm nichts erzählen, nicht einmal über Granja Quieta. Und während sie dachte: Granja Quieta, wie in der Ferne erklingende Glockenschläge, spürte sie, dass nahe dem Landhaus in ebendiesem Moment das Feld tot und flach dalag und dass lange verlassene Gräser darauf ein unsicheres Leben führten. Das hätte in Vicente kein Mitgefühl ausgelöst, aber genau das konnte sie ihm auch nicht erzählen. Und ebenso wenig hätte sie ihm zu sagen vermocht, wie ihr Leben den inneren Adel verloren hatte und wie sie jetzt im Zeichen eines Schicksals handelte. Die Anwesenheit eines Mannes in ihrem Blut oder die Stadt hatte ihre Macht zersetzt, sich auszurichten beim Suchen. Wo, wo war die Kraft, die sie besessen hatte, als sie noch Jungfrau war. Sie hatte die Gleichgültigkeit verloren. Manchmal, wenn sie aus dem Kino kam, an Vicentes Arm, sah sie die mondbleiche Nacht, die Bäume in einer Dunkelheit, die Ohnmacht glich, spürte, dass etwas in ihr sich näherte, und wollte es dann zu fassen bekommen, wollte einen Moment versunkener Traurigkeit. Sie wusste jedoch, dass der Mann sie daran hindern würde zu leiden, er würde sie mitziehen zu der treibenden, ausgeglichenen Halbempfindung ihrer Körper. Er zwang sie, nicht zu verzweifeln, er rief sie beharrlich und unzugänglich zu einer Erniedrigung auf, man weiß nicht, warum. Zwischen den zweien tobte ein Kampf, der sich weder durch Worte auflöste noch durch Blicke – und auch sie spürte überrascht und hartnäckig, dass sie versuchte, ihn zu zerstören, dass sie die Augenblicke von Reinheit fürchtete, die der Mann hatte, seine Momente von Einsamkeit waren ihr unerträglich, als wäre unangenehm und gefährlich, was in ihnen lag. Es war ein unmerklicher Kampf, der sie jedoch aneinanderband, in ein und derselben Sphäre von Anziehung, Verständnislosigkeit, Zurückweisung und Komplizenschaft. Trotz allem hatte er sie vieles gelehrt. Wenn sie hörte, wie er über den Weg staunte, den die Menschen zurückgelegt hatten, bis sie die feuchte, süße Kaffeebohne in ein bitteres Brühgetränk zu verwandeln wussten – ja, da lernte sie eine neue Art der Überraschung. Seine Art, ganz gewöhnliche Wörter aufzulesen und aus ihnen einen Gedanken zu machen. Sie sagte: »Es hat geschüttet, Vicente, als ob gleich die Welt untergeht«; er erwiderte scherzhaft: »Würde dich das denn stören, wenn sie unterginge?« sie war in eine größere und tiefere
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