Der Lüster - Roman
geflügelter, uneinnehmbarer Duft nach frischer Melone, diese Ekstase aus Erschöpfung und Flug … Die Schwäche mischte sich mit feinster Erregung. Bevor sie die Augen schloss, fiel ihr in einer letzten Vision die Treppe ein, die vom Boden aufragte, weiß dunkel, weiß dunkel, weiß dunkel, unbeweglich dahinlaufend zwischen den Wänden bis hin zur geschlossenen Tür. Geschlossen, dunkel, kompakt, ernst, glatt, groß, hoch, unüberwindlich – wie gut das war, was für ein Glück.
Tags darauf empfing sie den Brief des Vaters, mit dem er sie vom Tod der Großmutter unterrichtete. Sie war gestorben, ohne Beistand, in der Nacht. Am folgenden Morgen hatte das Hausmädchen das mühsame Klopfen des Spazierstocks gegen die Bodendielen vermisst und trug erleichtert erst später die Milch ins Zimmer. Da saß die alte Frau im Bett, das Nachthemd offen an der trockenen, rauen Brust, die Augen in tiefer Überraschung, den Mund aufgeklappt. Der Vater hatte tage- und nächtelang geweint. Auf dem Begräbnis hatte es geregnet, die Verwandten aus dem Süden waren bereits in Schwarz gekommen und stark erkältet. Einen Tag später nahmen sie den Zug zurück nach Hause, in jedermanns Gepäck ein Erinnerungsstück an die Großmutter, dazu ein Korb mit Reiseproviant – der Vater vergaß nichts, es war ja seine Familie. Haus und Grund hatte er geerbt. Die anderen Kinder bekamen nichts, weil sie die alte Frau verlassen hatten, deren Wunsch doch gewesen wäre, mit allen unter einem Dach zu leben; diesem Dach voller Staub auf den breiten Friesen, so riesig, dass es Dutzende von Männern und Frauen hätte beherbergen können, so aber war es immer leer geblieben auf der winderfüllten Ebene. Der Vater bat Virgínia, für einige Wochen zu ihm auf den Hof zu kommen, wenn sie den Unterricht und das Leben in der Stadt unterbrechen könne. Auch die Mutter liege mit Zahnschmerzen darnieder.
So würde sie also zurückkehren. Grübelnd blieb sie am Fenster stehen. Sie war nicht traurig, sie war nicht froh, sondern nachdenklich. Das Leben in der Stadt jetzt zu unterbrechen, da es sich ihr gerade ein wenig erschloss. Vicente. Ach, aber ein Wiedersehen mit Daniel … aber Vicente. Sie wusste, dass sie sich schon entschieden hatte zu fahren, und doch argumentierte sie, zweifelte, stellte Berechnungen an in einer gewissen Eitelkeit und nicht ohne Genugtuung. Schließlich begriff sie, bis zu welchem Punkt die Reise in ihr bereits klar war. Da unterwarf sie sich. Zwei Tage lang ging sie nicht zu Vicente, sie packte, vereinbarte kühl mit Miguel den Verkauf der Möbel zu einem niedrigen Preis, erklärte ihm, sie werde natürlich wiederkommen, aber dann in einer Pension wohnen oder vielleicht bei den Cousinen – sie war so beschäftigt! Nach einigen Gedanken, die nicht ans Ende gelangten, schien sie entschlossen, Vicente nichts von ihrer Abreise zu erzählen. Sie stellte sich vor, wie schwierig es wäre, es ihm zu sagen und auf seinem Gesicht – ach, sie konnte es sich ausmalen – nicht Überraschung zu sehen, sondern Ablehnung, Sehnsucht, aber in Form des leeren, feinen Ausdrucks, den er annahm, wenn er seine Gedanken verbergen wollte. Und es lag auch ein kluges, außerordentlich weibliches Kalkül darin – sie lächelte fast lustvoll –, das Geheimnis zu wahren: Nach einigen Tagen würde er ihre Abwesenheit bemerken, nach ihr fragen, und dann würde Miguel ihn informieren … Und dann würde sie wieder auftauchen! Ich habe dich lieb, hatte er ihr einmal gesagt, mit einer Art Trotz in der Stimme. Sie hatte sich fast gewehrt, ohne Kraft: Ja. Ja, wirklich, wiederholte er, weißt du, und sein Ton klang immer noch trotzig, als flüchtete er vor irgendetwas; die starr ins Leere gerichteten Augen schienen eher eine Beschränkung auszudrücken als ein Zugeständnis. Ohne dass sie sich das hätte erklären können, war der Satz für sie fast eine Beleidigung. Inmitten der Vorbereitungen hielt sie kurz inne. Plötzlich nahm die Reise einen neuen Sinn an, der Wille in ihr war stark gewesen, zurückzukehren, um einen Blick auf Granja Quieta zu werfen … In Sekundenschnelle spitzte sich ihr Wunsch fast schmerzlich zu, und sie bekam Lust zu lachen. Ja, sie könnte sagen, bis später, Mama, und hinaus aufs Feld gehen, früh hinaus in den Wind, sich auslöschen gegenüber dem Morgen – das war Granja Quieta sehen.
So kam der Tag vor dem Abreisetermin, und sie musste Vicente zum letzten Mal sehen. Morgens war sie sehr früh wach geworden, sie war
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