Der Lüster - Roman
noch ungebrühte Kaffee kalt geworden, während sie weinte. Sie schlug die Augen auf, das Gesicht knitterig und gealtert, die Wimpern zu Büscheln geteilt durch das Wasser, und die Helligkeit war so weiß, so offen, mürbe … ein Summen in der Luft … die winkenden Blätter … Ein Windhauch trocknete die Lippen, spannte die feuchte Haut. Sie zögerte. Sie spürte ein langes Wohlgefühl, das Trägheit war, Schwäche, Zaudern … – dieses Gefühl ach, solange man lebt, lebt man ewig, fast schon ein Ekel im Blut, als würde sie nachgeben, eilends … Etwas Eigentümliches, Faltiges überkam sie und verschwand, ein Gefühl von gereizter Leichtigkeit. Und da sie plötzlich darauf ansprach, einer Eingebung folgend, beschloss sie mit einem Schauer von Energie und wirrer Hoffnung, doch keinen Kaffee zu trinken, sondern zu Vicente zu gehen und ihn zu lieben, wie sie ihn noch nie geliebt hatte – während sie die lachenden und müden Augen schloss, spürte sie, dass ihre Empfindung stark und hoch gewesen war, so sehr, dass sie den Geliebten getroffen haben musste irgendwo im Körper.
Vicente stand auf und trat ans Fenster. Worauf wartete er eigentlich? darauf, dass sie kam. Vor mehreren Tagen war sie ohne Vorwarnung verschwunden, und das fand er in gewisser Weise ärgerlich und beunruhigend; sie brachte sich ihm in Erinnerung, und das war neu. Er war erschöpft, dachte er, während er wie ein Blinder über den kalten Marmor der Fensterbank strich. Er hatte viel gearbeitet, und das hatte ihn ermüdet, dachte er den Gedanken zu Ende und blinzelte verständnisvoll. Eine geschmeidige, lange Bewegung durchlief seinen Körper, er fühlte sich mit einem Mal behaglich, fast versöhnt mit dem Tag, den er in einsamer Arbeit zugebracht hatte. Er bemerkte, wie jene ganz persönliche Genugtuung wieder in ihm aufstieg, die in dem unwiderstehlichen Wunsch bestand, in Gesellschaft anderer zu sein, sich zu unterhalten, sich lachend zu verabschieden, in dem Wunsch, das Neueste aus der Politik zu erfahren und mit einem Freund zu Mittag zu essen, dabei auf der Stelle über rasche Frauen zu sprechen, oder eine Nachricht zu erhalten und sich eilig irgendwo zu treffen, welch ein Vergnügen, sich die Beine zu vertreten und Zeitung zu lesen, in Erwartung weiterer Ereignisse – und zur selben Zeit im tröstlichen Eindruck, dass viele Menschen die weiteren Ereignisse erwarteten. Vor allem hatte er tief in sich ein starkes, strenges Gefühl eingerichtet, eine dauerhafte, dabei nicht übermäßige Sorge um seine Gesundheit, eine gewisse beherrschte Haltung, die in den Momenten wieder hochkam, in denen das erforderlich war. Er suchte nach seinen Zigaretten, befühlte die Taschen, tastend. Ihm fiel Vera ein, in Weiß, und er runzelte die dichten Brauen – ja, er sah sie vor sich, wie sie darauf wartete, dass er seine Zigaretten fand, während er selbst damals wie jetzt genüsslich die vertraute Geste vollführte. Er fasste sie am Arm, drückte ihn, dass es wehtat: Wie dünn du bist!, sagte er, die Augen wütend und froh. Etwas überrascht stellte er fest, dass er damals lebendiger und jünger gewesen war, und ihn überkam ein schnelles Unbehagen, das abbrach, als er sich daran machte, die Zigarette anzuzünden. Ihre dünne Wohlgeformtheit erschien ihm wie ein wiederholter Affront, sie traf ihn als Kränkung unter Liebenden. Deren Strafe die Liebe war – er lächelte höhnisch und unterdrückte das Lächeln dann leicht angewidert. Wie dünn du bist!, sagte er misslaunig, und insgeheim, mit einem Tick Hass und Faszination, verstanden sie sich. Beim ersten Mal hatte er geredet, geredet, und sie hörte zu, lächelte, pflichtete ihm bei, sah ihn aber nicht direkt an, vielleicht verlegen? leidend? was war da nur los?, fragte er sich, und erneut bündelte sich seine gesamte Unruhe in einem Blinzeln hinter der Brille: Ob ich wohl allzu klug gewesen bin? Sooft er mit Frauen geschlafen hatte, waren sie ihm wieder erschienen, versammelt in einem einzigen Punkt, der in schnellem, offenem Leben pulsierte, ein aufmerksamer Punkt, neugierig, boshaft, amüsiert, äußerst müde und hoffnungsvoll. Er wollte die Empfindung festhalten, sah sich jedoch im leeren Raum, im Sessel sitzend, die langen Beine von sich gestreckt, die Füße, die Hände, das Wohnzimmer, ein paar Fliegen. Vage war ebendies geblieben, das Wohnzimmer mit den Fliegen und er, der auf Virgínia fast wartete. Verwirrt fragte er sich, ob er sich allen gegenüber feinfühlig verhalten
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