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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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nach diesem Tag, und fast hätte er sagen können, dass es eine Art Weinen auslöste, Tränen nicht, meine Güte, er griff zu der Erinnerung an seine tote Mutter, an der er immer noch sehr hing in einer Art vergessener Sehnsucht, an die Frauen, mit denen er geschlafen hatte, sie alle versammelt in einem einzigen Ausruf, an den Tag, an dem er bei der Arbeit zerstreut gewesen war und zugelassen hatte, dass er allein blieb, an die jetzt erneuerte Lust, Hoffnung in die Zukunft zu setzen, an sein Gefühl für Virgínia, verzweifelt, wütend, kindlich, wie ein Mann weint, bemerkte Virgínia. Und gleich im Anschluss an die Beobachtung, zu ihrer plötzlichen Verblüffung, schloss sie: Er weinte! Unfähig, sich ihm zu nähern, unfähig zu sprechen, sah sie ihn an. Aber was war denn? zwischen ihnen war doch alles so gut gewesen bis jetzt … sie liebten einander so sehr, und auf einmal … Sie sah ihn an. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte, das Gesicht noch verzerrt in der Mitte des Wohnzimmers, überrascht von sich selbst; wenn er den Ausdruck von Schmerz unterbrach, musste er wohl an Ort und Stelle sein Erscheinungsbild verändern, Virgínia würde ihn dabei still betrachten; wenn er hingegen fortfuhr, bitter vor sich hin zu starren, würde er mitten im Wohnzimmer stehen, als weinte er, als wäre er nackt; warum hatte er sich nicht vorher an ein Fenster gelehnt oder sich hingesetzt und sein Gesicht verborgen? doch die stärkste Empfindung in diesem Moment war die der Erleichterung: Hätte eine andere Frau als Virgínia ihn inmitten des Wohnzimmers gesehen … für Virgínia, ahnte er, war es natürlich, zu weinen, und vielleicht hatte er ja deshalb nachgegeben, weil es so einfach war, wütend auf sich selbst und auf sie. Ein gewisser Friede stieg von irgendwo in seinem Körper auf, vielleicht von der Flanke; es war ein Friede, in dem bereits ein Wohlbefinden steckte, eine leichte Freude, er hatte Lust, kurz aufzulachen und über die eigene Dummheit zu scherzen, aber er wusste nicht, wie er das Lachen über die vorherige Bewegung legen sollte, und verharrte mit betretener Miene. Virgínia stieß hervor:
    »Vicente, was ist denn los?«
    Er verabscheute sie für eine neue, schnelle und funkelnde Sekunde; er sah sämtliche Makel an diesem blassen Gesicht, in dem die unterschiedlichen Augen stets unentschlossen wirkten. Aber erneut stieg die warme, dunkle Welle in seiner Brust, und da Virgínia ein wenig näher getreten war, fasste er sie an den Händen, und da sie nachgab, zog er sie an sich, führte sie zum Sofa. Dies eine wollte er noch sagen: Meine Liebe, du hast aber lange gebraucht!, auch ohne die Arme auszustrecken. Doch es lag etwas Leichtes und Komisches in dieser Szene – er dachte daran, als erzählte er sie schon einem anderen, Adriano, und empfinge von jenem die belebende Woge seines Lächelns; er fragte sich allerdings, ob diese Art von Szene für ihn selbst nicht deprimierend sein könnte. In diesem Augenblick, mit gerunzelter Stirn, hätte er viel für einen wahrhaft tragischen Moment gegeben, so wäre er befreit vom Gewicht dieses Tages. Virgínias Hände haltend, merkte er, dass er schon eine ganze Weile zwei Stücke kaltes und starres Fleisch zwischen den eigenen Händen spürte, und er sah mit einem schnellen Blick ihr klares Gesicht, unberührbar kühl, hell und angespannt, die Lippen eisig. Hatte er sie so sehr erschreckt? war das alles wirklich so schlimm? die Entdeckung verdiente ein stolzes, interessiertes Lächeln. Auf der Stelle war in ihm mehr von einer Beschützerhaltung als von dem Gefühl, etwas sei »endlich explodiert«. Sie aber zeigte ihm mit einer kleinen Berührung – einer Geste des Zurückhaltens – einem subtilen und plötzlichen Ausdruck des Wollens, dass sie ihn noch in derselben Haltung begehrte. Und er, überrascht, ausgerechnet von Virgínia geführt zu werden, während er daran dachte, auf irgendeine Weise Adriano davon zu erzählen, Adriano, der ihm in diesem Augenblick als seine verborgene Kraft erschien und als einzige innige Verbindung in seinem Leben, er also gab nach, behielt dieselbe Färbung im Gesicht, verzweifelt, verlassen. Dabei simulierte er nicht, im Gegenteil; etwas in ihm schmerzte noch immer erwartungsvoll, und sein Körper brannte in einem guten Wunsch nach etwas Edlem, Hohem, ja, nach hohem Edelmut.
    »Warum hast du geweint?«, fragte Virgínia und ließ in der Rührung des Moments noch das geringste Feingefühl fahren, derb und wild. Die Stille

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