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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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schwebte lange Zeit im Raum, ohne sich auf den beiden niederzulassen.
    »Ich weiß nicht«, sagte er.
    »Ja, ja.«
    Er senkte den Blick, um seine tiefe Überraschung zu verbergen.
    »Ja … mein geliebter Kleiner.«
    Er sah sie entsetzt an … Adriano würde lächeln – aber warum hatte er ihn traurig lächelnd vor Augen, was bei Adriano doch unmöglich war? er sah sie entsetzt an … und es war nichts zu machen, das schmerzliche Ziehen auf der rechten Seite kam wieder in ihm hoch, ganz beiläufig, von dort aus würde er anfangen fortzugehen, das Zimmer hellte sich auf mit Wind vom Meer, die Meeresluft füllte seine Lungen wie die eines Fischers, die Wände wie aufgerichtete Mumien, Bild ohne Bewegung: Er fiel vor Virgínia auf die Knie und drückte den Kopf, konzentriert auf den tiefen Schmerz in der Seite, der sich jedoch immer noch nicht näher bestimmen ließ, gegen ihre Beine, ihre ruhigen, warmen Schenkel, und dort atmete er still und empfing von neuem den Atem, gemischt mit dem Duft von Virgínia, dem Duft nach der weißen Seide von Virgínia – Vera. Aber was begriff sie da eigentlich?, fragte er sich noch, fast amüsiert; es war, als wollte sie über ihn hinausgehen, ihn, der nichts von dem verstand, was geschah, und die Schultern hob.
    Auf Knien, neben ihr, das Gesicht in ihren Körper vergraben. Sie blickte nach vorne, trocken, fast streng. Fast ohne zu begreifen, wandte sie den Kopf ein wenig brüsk und sah aus dem Fenster, die Krempen ihres Huts erbebten, den abzusetzen sie keine Zeit gefunden hatte. Mit harten, unbeweglichen Augen versteckte das Gesicht einen Ausdruck vor sich, der auf langsame Weise schwierig war, er zeichnete sich mühselig und aufmerksam darauf ab, ein Ausdruck von Staunen und Klarheit im Widerstreit gegen jenes Fleisch, das gewohnt war, geduldig, hochmütig und kühl auf einen Moment zu warten, der nicht kommen würde. Und der jetzt im Herzen zerplatzte, so unausweichlich. Die Minuten verstrichen. Sie spürte plötzlich den Schmerz, der sich mit dem Fleisch vermischte, unerträglich, als würde jede einzelne Zelle umgegraben und aufgerissen, zerteilt in einer tödlichen Geburt. Den Mund mit einem Mal bitter und glühend, empfand sie Entsetzen, Härte und Reue wie beim Anblick von vergossenem Blut, ein Triumph, ein Schrecknis. Das also war das Glück. Der verletzte Glanz taumelte in ihrer Brust, unerträglich; in ihrem armen Herzen war ein Lichtsack geplatzt. Niemals hätte sie jetzt noch weitergehen können; schwach und verschreckt, so stand sie am weichen und fruchtbaren Punkt ihres Wesens. Sie wartete. Dann griff sie mühsam, mit sanften Händen ins Haar des Erlösten, gab ihm alles durch die bebenden Finger, sie, die nie imstande gewesen war, in ihren Tonpuppen das Leben erklingen zu lassen. Sie sprach das erste Wort aus ihrer neuen Erfahrung:
    »Vicente.«
    Er hob den Kopf, sah sie an, staunte, sie existierte auf einmal über Adriano hinweg. Und da sie in diesem Augenblick stark war, ruhig und voll wie eine Frau, unterwarf er sich, so wie er sich schon den anderen Frauen unterworfen hatte. Sie hielt den Kopf des Mannes zwischen den Händen; in einer gezierten, frischen Geste küsste sie seine leichten Lider. Die Lust im Mann kam licht und intensiv; er hob den Blick, wollte mit einer Stille beiden die Gewissheit geben, dass er ein Mann sei und sie eine Frau. Und da wich sie in einer unwiderstehlichen Bewegung zurück und drückte dabei mit der Handfläche gegen das rechte Auge.
    »Du hast mir ja den Finger ins Auge gesteckt«, sagte er, sich abhandengekommen, und wischte die Tränen ab, die ihm über die Wange flossen.
    Eine fröhliche, gedämpfte Trommel ertönte mitten im Raum, einem leeren Pavillon. Etwas hatte geendet in Sonne und Klarheit! Die Trommel donnerte in der Mitte des Zimmers; und danach war keine Stille je so stumm gewesen, so ruhig, endgültig in der hohlen Halle. Vicente nahm die Hand vom Auge, ein leichter Moment schien zu erwachen; er sah sie gelassen und aufrecht unter dem harten Hut, musterte sie fast neugierig; er dachte unbestimmt: Mein Gott, wenn ich die Welt wäre, täte es mir leid, eine Frau so sehr verletzt zu haben. Vera; er hatte sie so tief gekränkt. Virgínia aber wirkte merkwürdigerweise schon geheilt und schlicht, da sie nicht länger als den Moment selbst in jenem Moment verharrt war; sie hatte die Hände zurückgezogen, sie an den Hals geführt, sie dann zu dem Buch hin gelenkt, das auf dem Tischchen lag, um sie schließlich wieder im

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