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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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Schoß ruhen zu lassen. Plötzlich hob sie sie zum Kopf und setzte endlich den Hut ab, legte ihn auf den Tisch, glättete sich das feuchte Haar. Sie dachte daran, dass sie einmal eine Klassenkameradin gehabt hatte, die sie schlicht und einfach liebte, so sehr wie sie Maria Clara hätte lieben können. Das Mädchen – wie sich an ihren Namen erinnern? –, das Mädchen hatte langes goldenes Haar und kleine, boshafte blaue Augen. Solange Virgínia in ihrer Angst und Schüchternheit verweilte, war alles leicht und zart zwischen den beiden; danach gewann sie an Zutrauen, und eines Tages inmitten des Gelächters über einen Scherz – alles war so gelöst, so natürlich und so glücklich … ehrlich, wie hätte sie erraten können … ? da griff sie in den Reichtum der Freundin, in ihr langes Haar, und ein paar bebende, erschrockene Strähnen rissen, blieben ihr an den Händen hängen; die andere schrie vor Schmerz, drehte sich zu Virgínia um, die noch das übermäßige freudige Lächeln auf den Lippen hatte, auf denen sich bereits Bestürzen zeichnete, und zu der schuldigen Hand, die geschlossen und perplex in der Luft hing; sie schrie: Du Ungeheuer! Ja, ja, genau das war es gewesen. Und einmal hatte sie die Tochter der Nachbarin gepackt und auf den Arm genommen, bis zwischen den beiden nichts mehr war als Intimität; die Kleine roch ganz und gar nach ihrem eigenen Mund, nach dem Zimmer eines kleinen Mädchens, das schläft. Virgínia wollte sie umarmen, und das Mädchen fing an zu weinen, die Mutter kam mit wachsamen Augen, die Kleine sagte: Sie hat mir Aua gemacht, die Mutter nahm die Tochter wieder zu sich und sagte, es sei doch nicht so schlimm. Ja, das alles war passiert.
    »Gehen wir aus?«, sagte Vicente behutsam.
    Er hatte aufgehört, die Augen zusammenzukneifen, fuhr sich mit der feinen, männlichen Hand übers Gesicht, als hätte er das Bedürfnis, die Härte der eigenen Züge zu spüren; er war verstört; und in seiner Miene verstärkte sich fast unmerklich der sanfte Zug, an dem sich so sicher die Güte zeigte, zu der er fähig war. Sie sah ihn fest an, als würde sie gerade wach, als dürfte sie ihn niemals vergessen.
    »Nein«, sagte sie.
    Nein, sie wollte nicht ausgehen, sie wollte überhaupt nichts löschen und blickte stattdessen gelassen aus dem Fenster. In diesem Moment war sie wirklich sehr hübsch – Vicente betrachtete sie, während er sich eine Zigarette ansteckte, ihr auch eine hinhielt. Sie nahm an; und dann hatte es tatsächlich nie etwas gegeben, das man hätte löschen und vergessen müssen; der Lebensabschnitt vermischte sich mit dem Leben als Ganzes, und in einem einzigen Strom lief alles voran, unbegreiflich, grundlegend, ohne Angst und ohne Mut. Angetrieben von der unermesslichen Kraft der Minuten, die einander folgten in der Zeit, verbunden mit den Momenten, in denen das eigene Blut pulsierte. Der Abend war fein und ruhig. Virgínia fiel ein, dass sie vor der Abreise stand, aber sie sagte nichts und steigerte ihre Verbindung zu dem, was ringsum war. Vicente selbst sprach am Ende mit großer Freiheit, und seine Stimmung hellte sich auf, er zeigte sich liebenswürdig und fröhlich. Ihr fiel es leicht, aufmerksam zu sein, und sie sagte, wie sehr ihr eine Äußerung von ihm gefallen und wie sehr sie sie verstanden habe, etwas, das er ihr einmal gesagt hatte, vielleicht bei dem Abendessen bei Irene. Er war verdutzt darüber, dass sie den Satz behalten, geschweige denn begriffen hatte, und streckte ihr fast die Hand hin, nicht aus Eitelkeit, sondern zu einer Art Entschuldigung, gemischt mit einer unbestimmten Ahnung, dass sie hätten besser leben können, dass auch er hätte besser leben können mit Vera, und zu Irene sich freundlicher verhalten. Sie fühlte sich so gelassen, dass sie sogar sagte: »Wie hübsch war doch Maria Clara auf dem Abendessen bei Irene!« Doch die schlichte Art, in der er erwiderte: »Sie ist eine der anziehendsten Frauen, die ich kenne«, machte sie trübsinnig; sie lächelte, aber die Ebene, auf der sie existierte, hatte sich unmerklich verändert, so, als hätte sich der Glanz im Raum verdunkelt. Ihr fiel ständig die Reise ein, ihr fiel die Großmutter ein, sie war überrascht, so viel an sie zu denken. Verwirrt, weil ihr der Tod als ein Akt des Lebens erschien, der Tod im Alter war eine frische, unverhoffte Frucht und ein plötzliches Wiederaufleben. Für sie war es fast so, als finge die Großmutter erst jetzt an zu existieren. Sie sah ihre starren,

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