Der Lüster - Roman
feuchten Augen vor sich, ihre Lider, die in hilfloser Schamlosigkeit blinzelten, die Haut aus braunem, knitterigem Stoff, so viel älter als ihr harter, blinder, kindlicher Leib. Sie malte sich aus, wie die Alte gewitzt und unheilschwanger sagte: Während es mich gab, habe ich eine Menge gegessen. Wie alt, schwer und tot war jene dünne Großmutter, der es plötzlich einfiel zu sterben. Ein feines Schauern überlief sie bei diesem Gedanken, der ihr grausam und frei gekommen war, sie hob achtlos die Schultern, doch eine vage Beklemmung, die sich auch in diesen letzten Abend mit Vicente mischte, ließ ihre Augen erschrocken eng werden, ihr Herz verkrampft in langsamen, leeren Schlägen; hastig entfernte sie sich von dem Gedanken. Sie war gewohnt gewesen, an der alten Frau vorbeizueilen, hatte ihr stets nur einen schnellen Kuss gegeben und war weitergelaufen. Manchmal hatte sie die Augen richtig weit geöffnet vor der Großmutter, als wollte sie sie wirklich wahrnehmen, aber ihr gelang nicht, sie so zu sehen, als geschähe es zum ersten Mal – die Großmutter existierte nicht; allerdings war ihr Nicht-Sein unvollständig; nur ein Gesicht, das man küsste wie eine Verpackung aus Papier; und auf einmal starb diese Frau, so wie jemand sagt: Ich habe gelebt. Virgínia war überrascht, dass sie den letzten Abend mit Vicente damit vergeudete, an die Tote zu denken, aber ein unklarer, hartnäckiger Wunsch kettete sie weiter an diese schreckliche alte Frau – was auf irgendeine seltsame Weise dem Abschied entsprach, den sie von Vicente nahm, ohne dass er davon wusste. Nein, sie würde von der Reise nach Granja Quieta nicht sprechen. Doch aus einer Gebanntheit heraus, die ihr auf rätselhafte Weise den Geschmack von etwas Verbotenem, Niederträchtigem und Aufregendem vermittelte, versuchte sie von der Großmutter zu reden, ja, und dabei nicht einmal zu sagen, dass sie gestorben war … Sie kam immer mehr in Fahrt, ging in die Einzelheiten, gab Anekdoten zum Besten, die fast zur Enthüllung wurden, fast, ja, aber doch geheim blieben – und die Gemeinheit, etwas unvermeidlich Infames und Schlaues, verbreitete sich in der klaren, salzigen Luft des Zimmers. Vicente interessierte sich für die Großmutter! Er scherzte: »Das muss angenehm sein, im Schatten einer alten Frau zu leben.« Doch wie eine Glocke, die plötzlich geschlagen wird und heftig erklingt in einer Stadt, fügte er hinzu:
» WER WEISS, VIELLEICHT LERNE ICH SIE JA EINES TAGES KENNEN? «
Und mit einem Mal wurde ihr ganzer verrückter Wunsch, sich im Leben zu irren und es zu unterwerfen auf Kosten der Bosheit, die sie sich ausdachte, ihr ganzer Wunsch, der sie in diesem Augenblick auf eine begierige Weise glücklich machte, mit einem langsamen, kalten Messer abgeschnitten, und die Welt stürzte in die Wirklichkeit, mit einem blassen Seufzen. Sie spürte die Erschöpfung ihres ganzen Spiels. Warum nicht einfach sein, gut, verständnisvoll, aufmerksam und natürlich?, fragte sie sich voller Tadel; letztlich, mit einem weiteren Seufzen, schien ihr, sie habe Angst. Er ging zum Kühlschrank und brachte Wurst, Milch, Pudding; sie kochte Kaffee, und dann setzten sie sich zu einem kleinen Abendessen. Niemals hatte sie sich an Vicentes Seite so wohl gefühlt. Selbst als er sie umarmt hatte, hatte sie ihn verstanden, blinzelnd, bereit, in der Zukunft zu vergeben, was noch an Unglück geschah. Selbst wenn sie ihn nicht verstehen könnte, sie würde ihn aufnehmen, wie eine Frau einen Mann aufzunehmen weiß, wie eine Mutter. Und während sie speisten, im Schein der Lampe, verachtete sie all das Glück, das sie mit Miguel erlebt hatte. Vicente redete von jemandem, der so geistreich war, so … In einem Anflug von Wagemut sagte sie zu ihm: »Ja, sicher ist es leicht, lustige Sachen zu sagen; man macht die Augen zu und denkt nicht nach, und dann ist man erstaunt, was man gesagt hat …« Er lächelte:
»Na, dann mach mal die Augen zu, meine Liebe …«
Auch sie lachte, schloss mutig und schlicht die Lider, mit pochendem Herzen; zögerte ein wenig:
»Welt … große Welt, ich kenne dich nicht, aber ich habe von dir gehört, und das ist dir unangenehm … das ist mir unangenehm, so wie ein Stein im Schuh!«
Er lachte ein offenes, fröhliches Lachen, und während er lachte, sah er sie aufmerksam an, überrascht:
»Sag noch was, Herzchen …«
Sie fasste allmählich Zutrauen, wie ein Hund, dem man das Fell glättet; sie schloss die glänzenden Augen und fuhr fort, das
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