Der Lüster - Roman
erschrecken; fast gerührt, als betrachtete er ein altes Porträt. Ihn befiel Mitleid mit Virgínia, dieses Gefühl, bei dem er sich selbst ein wenig schämte, es war dasselbe Mitleid, das seine Schwester zu der Aussage veranlasst hatte: Du bist so gut, Vicente! Wenn sie heute eintraf mit ihren großen, weit geöffneten Augen, kraftlos lächelnd, würde er rasch aufstehen müssen und – nicht die Arme ausstrecken, versteht sich –, sondern sagen: Meine Liebe, du hast aber ganz schön lange gebraucht! was der Wahrheit entsprach. Ja, ja, es war die Wahrheit. Er sah sie schon vor sich, wie sie ihn glücklich anblickte. Glücklich? würde sie das bleiben? oder überrascht … oder was? Virgínia … sie würde lachen. Nein. Schon jetzt wollte er, dass sie hereinkam, auch um sehen zu können, wie sie reagierte, wie sie lebte. In einer gewissen Aufregung lief er auf und ab: Warum kam sie nicht endlich? Genau da überfiel ihn ein Augenblick von Fremdheit und roher Einsamkeit, ah, er hielt sich die Hand an die Flanke, beugte sich nach vorne, die säuerliche, verblüffte Empfindung am Gaumen, wenn man in eine unreife Frucht biss – ah, diese Seite, für einen Augenblick verlor das Leben seinen vorsichtigen alltäglichen Sinn, es drehte sich die verbrannte Wange, und dabei trat eine frische Oberfläche hervor, neu, auf furchtbare Weise unbegreiflich – er hielt sich mit einer Hand und mit seinem ganzen Leben die rechte Flanke, wo der Schmerz sich entwickelt hatte zu einem Pfeil in Bewegung; er ertrug ihn mit geschlossenen Augen, den blassen Mund zusammengekniffen: Von da würde eines Tages der Tod kommen: Der Großvater war auf derselben Flanke gestorben, der Vater war auf derselben Flanke gestorben, er würde auf derselben sterben, und etwas zog sich zusammen in einer Leber, die er nicht kannte. Nach und nach löste sich das Stechen. Er entkrampfte die Lippen, öffnete die Augen einen Spalt weit; dann nahm er die Brille ab, was sein gesamtes Erscheinungsbild veränderte, er bekam dadurch etwas Unschuldiges und Unbedarftes wie ein Junge; blinzelnd wischte er sich mit einem Taschentuch über die feuchte Stirn, und ihm entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, der an ein Keuchen erinnerte; in diesem Augenblick verloren sich Vater, Mutter, Geschwister und Frauen, er betrachtete rund um den nackten Körper die entstehende Welt. Einige Momente vergingen, und eine ruhige, unerklärliche Kraft erfasste ihn von neuem; er steckte sich noch eine Zigarette an, und die Brille, die er wieder aufgesetzt hatte, gab seinen Gedanken mit dem vertrauten Gefühl ihre Richtung zurück. Er bemerkte es undeutlich, ihm ging durch den Sinn: Was wäre ich ohne sie alle. Aber warum kam sie nicht endlich – je länger sie brauchte, desto schwieriger würde es werden, weil er den Ansporn verloren hätte. – Die wiedererwachte Ungeduld ermüdete ihm das Herz – erneut diese stechende Gewissheit, dass heute der Jahrestag von etwas sein musste, das schwierig war und lastete. Er war verblüfft, dass er eingewilligt hatte, den Tag so allein zu verbringen … Als er klein war, hatte er immer geantwortet: Mir ist zu anstrengend, allein zu sein. Denn wenn sie nicht kam, wie sie es noch verlangte … wie sie es noch erwartete, dass er es sagte… O ja, er wies sie zurück, schnell. Nichts weiter. Nein, nein, auch so nicht … Er lächelte unerklärlich, zündete sich eine weitere Zigarette an.
Danach kam sie dann im weißen Festtagskleid … den breitkrempigen Hut über dem langen Gesicht … Sie blieb einen Moment lang reglos stehen, genießerisch, im aufmerksamen Bemühen, aufzutauchen wie eine Vision … warum? als feierte sie den Tag … Vera kam ihm ins Gedächtnis, in Weiß. Etwas zog sich in ihm zusammen. Und als er Virgínias blasse Wangen sah, ihre Lippen, die etwas Kindliches hatten, ihre ruhige Art, da spürte er, dass es absurd gewesen wäre, irgendetwas in einem anderen Ton zu sagen. Aber da er es doch versuchen wollte, sagte er aus Mitleid:
»Das hat aber gedauert, Virgínia!«
Sie antwortete in feinem, fast ausgesuchtem Ton:
»Du weißt doch, wie diese Busse sind.«
Lächelnd. Warum? in diesem Augenblick, als wäre dies mehr, als er ertragen könnte, fast der verständlichste Moment des Tages, zog ein Ausdruck von Verlust und Verzweiflung über sein Gesicht, anfangs vage, dann aber sofort bewusst und übermäßig. Und als sie ihn mit offenen Augen ansah, dachte er: Ja, mein Gott! das war wirklich mehr, als er ertragen konnte
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