Der Lüster - Roman
in lebendiger Innerlichkeit. Sie strich mit den Fingern über den Vorhang, ihr Körper überließ sich einer vagen Bewegung, im Einvernehmen mit dem Seufzen des Meeres, und sie hob allmählich den Arm und spürte plötzlich ihre eigene Gestalt, die sich abhob gegen die Luft. Sie wusste, wenn Vicente sie ansah, würde er denselben Schauder haben. Sie warf ihm einen Blick zu, aber er war abgelenkt. Noch eine Minute in derselben beiläufig lebendigen Haltung, vielleicht würde er sie dann entdecken … Doch da bemerkte sie, wie Starrheit recht bald an die Stelle der anmutigen Pose trat, ihre eigene Empfindung alterte schlagartig, und in einer nachdenklichen, schmerzlosen Geste holte sie den Körper zurück in die eigenen Proportionen. Sie verließ das Wohnzimmer, durchquerte den geflügelten Raum, erreichte die verglasten Türen und sah auf die Straße hinunter. Das Meer war allenfalls flüchtig zu erkennen, wie eine dunkle und tiefe Bewegung – sie erschauerte. Draußen regnete es, die Straße glänzte schwarz und sanft, Autos fuhren schnell. Eine Inspiration durchstieß sie so scharf und unvermittelt, dass sie die Augen schloss, erschüttert, hingerissen. Sie stieß an unbestimmte Möbel, atmete die zurückhaltende Dunkelheit und erreichte schließlich die Tür zu dem Raum, in dem er arbeitete, die kurzsichtigen Augen auf Buchstabensuche im wechselnden Halbdunkel.
»Vicente«, sagte sie und lächelte angespannt. »Lass mich hier schlafen.«
Er hob überrascht den Kopf, und bald schimmerte durch den Kerzenschein ein Lächeln.
»Das möchtest du?«
»Ja, sehr«, sagte sie inständig und lachend, die heisere Stimme schwer vom Zauber.
Es war ein so glücklicher Abend gewesen, die Zimmer schwebten mit den schmächtigen Flammen der Kerzen. Die beiden hatten ein Glas Milch getrunken und auch ein Glas hellen milden Wein. Danach hatte sie sich umgezogen, den Blick mit inniger Leidenschaft auf dem Nachthemd, das sie bei Vicente zurücklassen würde, während sie ihn die Türen schließen und in die Küche gehen hörte, ins Badezimmer. Ihr Gesicht, nachdem sie das Kleid abgelegt hatte, spiegelte sich glänzend und gerötet im überraschenden Licht der Kerze; die Schultern waren mit roten und dunklen Schatten bedeckt. Vicente schloss gerade die Wohnungstür, überprüfte nochmal den Riegel; in der Gegend trieben Diebe ihr Unwesen, sie pflegten tatsächlich durch die Tür einzudringen. Die Welt kam ihr groß vor, pochend und finster, so voller Angst und freudiger Erwartung! unterdessen schlug das Wohnzimmerfenster trocken im Wind, und Vicente beeilte sich, es zuzumachen. Dann legten sie sich hin, gemeinsam, ausgeglichen; Vicente drückte mit den Fingern den Kerzendocht aus. Der Regen trommelte heftiger aufs Haus, und weit weg sangen die Straßenbahnen auf den Schienen, verloren sich nach und nach in Ferne und Schweigen. Er streichelte sie ein wenig, zart, sagte mit einer ruhigen, fast strengen Stimme, die gut in das dunkle Zimmer passte:
»Schlaf, mein Herz.«
Wenige Augenblicke später sah sie, dass er eingeschlafen war. Eine Stille aus Feuer, das zu Asche erlosch. Sie hatte immer noch die Augen offen. Für einen Moment vermisste sie die Grille. Eine Grille im Zimmer zu haben, das war nicht, als ob man ein Haustier besaß, es ergab sich daraus nichts Besonderes, aber man vergaß es auch nie; es war eine Erinnerung, die sich nicht auflöste, hart und glänzend wie die Grille selbst beim Singen – das würde ihr fehlen, wenn sie nach Granja Quieta zurückkehrte. Und weil sie an die Reise gedacht hatte, streckte sie im Dunkeln die Hand zu einer Liebkosung aus und fand verblüfft, den Blick plötzlich in die Luft geworfen, seinen Bauch, kühl, weich und pulsierend wie der eines Froschs. Vicente. Sie wartete kurz, angespannt, geschärft; dann überließ sie sich einer fast fröhlichen Resignation. Er atmete ruhig. Schnarchte undeutlich vor sich hin. Sie lächelte, senkte den Kopf ins Kissen, mit geheimer Boshaftigkeit und neuem Mut für die Tage, die folgen würden. Irgendwann … dachte sie und biss sich dabei auf die Lippen in einer unbegreiflichen Drohung, die Vicente galt, irgendwann… Er atmete weiterhin geräuschvoll, fast schnarchend, ohne Bewusstsein. Und sie, in einer Bewegung des Rückzugs und des Tadels gegen sich selbst, vermied vollends die eigene Zukunft, mit einem Seufzen. Ihr gelang es nun nicht mehr, das weite Wohlgefühl vor sich zu verbergen, das sie in den eigenen Körper eintauchen ließ,
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