Der Maedchenmaler
Künstler, der sich in die Öffentlichkeit begibt, muss damit leben, dass man versucht, in sein Privatleben einzudringen. Man will ihn ganz und gar kennen, kein Geheimnis akzeptieren.«
Endlich hatte Bert den Eindruck, den Menschen Ruben Helmbach vor sich zu haben, und nicht die Rolle, die er spielte.
»Hat man ihn vollkommen transparent gemacht, wird das Spielchen langweilig. Dann dreht man sich um und wendet sich dem Nächsten zu. So funktioniert der Kulturbetrieb. Heute bringt man den Prominenten Opfergaben, morgen legt man sie selbst auf den Altar. Und noch während man sie anbetet, hasst man sie, weil man eigentlich keine Götter dulden will.«
»Und das Mädchen...«
»Wird zu meinem Geheimnis gemacht. Und jeder versucht, es zu lüften.«
»Mit etwas Phantasie kann man Ihre Schwester darin erkennen.«
Ruben Helmbach winkte verächtlich ab. »Sie können auch das Mädchen von nebenan darin wieder finden, die junge Kleopatra oder meine Assistentin Judith. Es ist eine Frage der Perspektive. Sie werden darin erkennen, wen immer Sie wollen.«
Was er sagte, hatte Hand und Fuß. Bert beschloss, das Thema zu wechseln.
»Sie haben nichts von Ihrer Schwester gehört?«
»Nein. Und ich möchte daran auch nichts ändern.«
»Gibt es dafür einen Grund?«
»Unmittelbar vor dem Unfall unserer Eltern hatte ich einen heftigen Streit mit meinem Vater. Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht mehr, worum es dabei ging. Jedenfalls machte Ilka mich damals für den Tod unseres Vaters und den Zustand unserer Mutter verantwortlich.«
Ehrlich gesagt
. Nach Berts Erfahrung benutzten aufrichtige Menschen diese Floskel nicht.
»Weil Sie sich mit Ihrem Vater gestritten hatten?«
»Ja. Mein Vater ist ziemlich erregt ins Auto gestiegen und wenig später auf der Landstraße von der Fahrbahn abgekommen.«
Und dann wollte er den Anlass des Streits vergessen haben?
Ehrlich gesagt
. Eine Phrase, die auch der Chef gern verwendete. Bert beschloss, sich sein Misstrauen zu erhalten.
»Das muss Sie sehr bedrückt haben.«
»Anfangs ja. Ich hab mir ja selbst die Schuld gegeben. Heute denke ich anders darüber. Es wäre äußerst bedenklich, Streitigkeiten nur deshalb zu vermeiden, weil der Straßenverkehr gefährlich ist.«
Bert wünschte, er hätte häufiger mit Menschen zu tun, die in der Lage waren, die Dinge des Lebens so differenziert zu betrachten.
»Und dieser Vorfall hat dazu geführt, dass der Kontakt zwischen Ihnen und Ihrer Schwester abgebrochen ist?«
»Wenn Sie so wollen.«
Schon wieder eine Worthülse ohne Bedeutung. Bert spürte, dass es ratsam war abzubrechen. Er würde keine ehrliche Antwort mehr bekommen.
»Haben Sie Ihrerseits noch Fragen?«
Ruben Helmbach nickte. »Ich wüsste gern, wie weit Ihre Ermittlungen gediehen sind.«
»Noch stehen wir ganz am Anfang«, sagte Bert. »Heute ist ein Foto Ihrer Schwester in den beiden hiesigen Tageszeitungen erschienen, zusammen mit einem Aufruf an die Bevölkerung. Seitdem laufen die Telefone heiß. Jetzt heißt es abwarten. Und hoffen.«
Er brachte Ruben Helmbach zur Tür und kehrte an den Schreibtisch zurück. Legte die Beine hoch und verschränkte die Hände hinterm Kopf. Normalerweise war er in der Lage, sich rasch ein Bild von jemandem zu machen. Bei diesem Mann war das anders. Helmbach kam ihm vor wie ein Chamäleon. Selbst wenn er vor einem saß, war er nicht zu erkennen.
Bert holte sich einen Kaffee. Die Luft war immer noch wie aufgeladen von der Gegenwart des Malers. Wie hatte Ilka sich neben diesem Bruder behaupten können?
Ilka hatte tief geschlafen. Als sie wach wurde, war der Tag schon fast vorbei. Ihre Augen brannten. Als hätte sie stundenlang am Computer gesessen. Noch ganz benommen, tapste sie ins Bad.
Der Anblick der abgeschnittenen Haare war ein Schock. Schluchzend sammelte sie die Strähnen auf und legte sie in die Schublade des Sekretärs. Sie brachte es nicht fertig, sie in den Abfalleimer zu werfen. Ihre Stirn fühlte sich heiß an. Wahrscheinlich hatte sie Fieber. Sie ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Als sie den Hahn aufdrehte, schauderte es sie. Allein der Gedanke daran, Hände oder Gesicht mit kaltem Wasser in Berührung zu bringen, verursachte ihr Schmerzen.
Die Schere hatte sie wieder unter der Matratze versteckt. Ruben würde wissen, dass sie eine Schere hatte. Er würde es wissen, sobald er ihr Haar sah. Aber sie würde sie ihm nicht freiwillig aushändigen. Sollte er doch danach suchen.
Sie nahm
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