Der Maedchenmaler
ich freu mich.«
Er fragte nach der Post, nach Anrufen, teilte ihr mit, wie weit er mit den Vorbereitungen für die Ausstellung war. Sie hörte ihm zu und beantwortete seine Fragen. Dann erzählte sie ihm, ein Fernsehjournalist habe sich gemeldet, um ein Porträt über ihn zu drehen.
»Im Augenblick nicht«, sagte Ruben.
»Fernsehen!« Judith klang fassungslos. »Das ist doch eine tolle Chance!«
»Im Augenblick nicht«, wiederholte Ruben. »Ich brauche Zeit. Für mich.«
Sie machte eine lange Pause. »In Ordnung. Dann sag ich ihm ab.«
Er hörte so viel Traurigkeit in ihrer Stimme und so viel Hoffnung, dass er der Versuchung erlag. »Hast du Lust, mich zu sehen, Judith?«
Zehn Minuten später war er auf dem Weg zu ihr.
Die Nacht war furchtbar lang. Vielleicht war Vollmond. Oder sie hatte zu viel Kaffee getrunken. Jedenfalls fand Ilka keinen Schlaf. Gegen zwei stand sie auf.
Seit Stunden spukte ihr ein Film im Kopf herum.
Der Graf von Monte Christo
mit Richard Chamberlain in der Hauptrolle. Wenn er einen Gang durch jahrhundertealtes, dickes Gemäuer graben konnte, dann musste das bei den verhältnismäßig dünnen Mauern einer Jugendstilvilla doch erst recht möglich sein. Dieser Dantes hatte zwar dreißig Jahre dazu gebraucht, aber er hatte auch nur einen Löffel zur Verfügung gehabt.
Sie brauchte Werkzeug, ein Stemmeisen, einen Meißel, eine Feile. Noch einmal durchsuchte sie jede Schublade und jeden Schrank, obwohl sie wusste, dass sie nichts finden würde. Enttäuscht klappte sie die letzte Schranktür zu. »War sowieso eine Schnapsidee«, murmelte sie.
Vielleicht gab es einfachere Wege, wenn sie nur erst Rubens Vertrauen zurückgewonnen hätte. Sie ging ins Wohnzimmer und zog ein Buch aus dem Regal. Nach den ersten Sätzen legte sie es wieder weg. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Die Unruhe, die sie am Schlafen hinderte, ließ die Buchstaben vor ihren Augen tanzen.
Sie hatte das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Das Fenster war zwar gekippt, aber der Rollladen schloss so dicht, dass er keine Luft durchließ. Erst morgen würde Ruben ihn wieder hochziehen. Morgen erst.
Morgen musste sie wissen, wie sie sich verhalten sollte. Sie musste einen Plan entwickeln. Und einen Ersatzplan für den Fall, dass der Plan nicht funktionierte. Mit einem Plan wäre sie Ruben nicht länger hilflos ausgeliefert. Sie hätte ein Geheimnis. Und ein klares Ziel: ihre Freiheit.
Nach der ersten Euphorie sank ihr der Mut wieder. Ruben war nicht dumm. Sie hatte ihn noch nie kontrollieren können. Keinem war das je gelungen. Er würde sich die Macht nicht einfach aus der Hand nehmen lassen.
Irgendwie war Ruben im Morgengrauen nach Hause gekommen. Er hatte zu viel getrunken, um sich noch genau daran zu erinnern. Er wusste nur, dass sein Zustand mit dem Wort
Morgengrauen
präzise beschrieben war.
Judith hatte mitten in der Nacht für ihn gekocht. Sie war ein Phänomen. Zauberte aus dem Nichts die köstlichsten Speisen hervor. Sie hatten sich am Tisch gegenübergesessen und Ruben hatte sich auf sonderbare Weise getröstet gefühlt. Die Vertrautheit des alten Hauses hatte ihn mit offenen Armen empfangen. Es war gewesen, als wäre er für eine Weile in sein altes Leben zurückgekehrt.
»Es ist schwierig, den Leuten zu erklären, warum du abgetaucht bist«, hatte Judith vorsichtig gesagt. »Die Presse habe ich nur mit Interviewversprechen hinhalten können.«
»Sie sollen ihr Interview kriegen«, hatte Ruben geantwortet. »Später. Lass sie ruhig noch ein bisschen zappeln.«
Die offizielle Version, auf die sie sich geeinigt hatten, war die, dass Ruben dem Trubel um seine Person entflohen war, um ungestört arbeiten zu können. Und dass Judith die Weisung hatte, niemandem zu verraten, wo er sich aufhielt.
Sie selbst hatte Ruben versprechen müssen, sich nur in wirklich wichtigen Angelegenheiten an ihn zu wenden. »Ich hab den ganzen Rummel satt«, hatte er ihr damals erklärt. »Er macht mich krank. Ich muss wieder zu mir selbst finden und dazu brauche ich absolute Einsamkeit.«
Judith hatte sich daran gehalten, wie sie sich an alle Abmachungen hielt. Aber es fiel ihr schwer. Ruben merkte es an der Art, wie sie ihn betrachtete. Sie studierte sein Gesicht, als wollte sie es sich für den Rest ihres Lebens einprägen.
Irgendwann nahmen sie ihre Weingläser und zogen sich ins Wohnzimmer zurück. Im Schein des knisternden Kaminfeuers saßen sie auf dem Sofa und redeten. Mit Judith
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