Der magische Reif
ehrlich bin, muss ich zugeben, dass sich bereits vor etwa zehn Tagen etwas zwischen uns verändert hat. Vorher war er immer ausgesprochen fürsorglich, so aufmerksam gewesen und plötzlich schien er so distanziert, fast gleichgültig. Als ob er mich nicht mehr brauchte.«
»Wie bitte?«
Sie schüttelte traurig den Kopf, als ihre Erinnerungen wieder hochkamen.
»Es ist eine seltsame Geschichte, Samuel . . . Während all der Zeit, die wir zusammengelebt haben, hat Rudolf mich nur ausgenutzt, nicht mehr und nicht weniger. Nein, er hat mich nicht geliebt, er hat mich nur benutzt. Jeder andere an meiner Stelle hätte Verdacht geschöpft, bestimmt. Allein schon das Haus in Chicago . . .« »Das Haus in Chicago? Welches Haus?«
»Der Firmensitz von Arkeos. Offiziell ist die Firmenzentrale in New York, aber in Wirklichkeit ist das Gebäude, in dem sich die Büros und Rudolfs Wohnung befinden, in Chicago. Es kommt noch besser, es ist dort, wo früher deine Urgroßeltern mütterlicherseits lebten. Das hätte mich übrigens hellhörig machen müssen . . .«
Samuel fragte sich, ob bei seinem Herzanfall nicht auch ein paar wichtige Neuronen in seinem Gehirn abgestorben waren.
»Tut mir leid, Tante Evelyn, ich verstehe kein Wort.«
»Nun . . . Wenn Rudolf und ich verreisten, fuhren wir meistens zu dem Firmensitz in Chicago. Rudolf lagerte dort den Großteil seiner Antiquitäten zwischen und leitete von dort aus seine Geschäfte.«
Chicago, überlegte Sam. Rudolfs Hauptquartier, eine Flugstunde von Saint Mary entfernt. . . Vielleicht dort, wo er Alicia nach ihrer Entführung hingebracht hatte?
»Und was hat der Firmensitz von Arkeos bitte mit meinen Urgroßeltern zu tun?«
»Grandmas Eltern sind Anfang der 1930er-Jahre in dieses Gebäude eingezogen. Ein seltsamer Zufall, nicht wahr? Zu jener Zeit war das Haus gerade gebaut worden und bot allen modernen Komfort. Dort hat Grandma ihre Kindheit verbracht, bis sie eine junge Frau geworden war, in dem Feinkostladen der Faulkners Arbeit gefunden hatte und sich in deinen Grandpa verliebte . . . Das erklärt auch, warum Allan und ich als Kinder an vielen Sonntagnachmittagen im Hof dieses Wohnhauses gespielt haben. Und an einem dieser Sonntagnachmittage hat Allan mich mit in den Heizkeller gezogen und es ist etwas Furchtbares passiert. . .« Sie fröstelte, als sähe sie alles wieder vor sich.
»Nach all dem, was ich jetzt weiß, weil Lili mir alles über eure Reisen durch die Zeit erzählt hat, glaube ich immer mehr, dass das Schicksal der Faulkners an jenem Tag seinen Lauf nahm. An jenem verwünschten Tag, als Allan sich in den Kopf gesetzt hatte, den Heizkeller zu erforschen . . . Es war verlockend, das muss ich zugeben: Man hatte uns immer streng verboten, in den Keller hinunterzusteigen. Wegen des riesigen Heizkessels und der vielen kochend heißen Wasserrohre. Doch am fraglichen Nachmittag stand die Kellertür offen und Allan hat mich überredet mitzukommen. Mit klopfendem Herzen gingen wir die Treppe hinunter und haben uns in den Kellerräumen zuerst verlaufen, bis wir den riesigen Raum mit dem Heizkessel fanden. Dort haben wir eine Weile Verstecken gespielt. Auf der Suche nach einem Versteck entdeckte Allan hinter den Kohlensäcken ein Loch in der Mauer. Wir gruben ein bisschen im Schein unserer kleinen Lampen und legten einen Gang frei, durch den man sich hindurchschlängeln konnte. Nach ein oder zwei Metern endete der Tunnel in einem Raum voller Schutt, alten Zeitungen, toten Ratten und anderem Unrat. In einer Ecke lagen sogar ein paar Knochenreste und, direkt daneben, ein merkwürdiger abgerundeter Stein. Mit einem eingravierten Kreis und seltsamen Rillen . . .«
Samuel richtete sich aus seinem Kopfkissen auf und das Piepen des Geräts, das sein Herz überwachte, beschleunigte sich rapide.
»Unter Grandmas Haus gab es einen Sonnenstein?«
Evelyn nickte. »Allan nannte ihn den >dicken Stein<«. Er war fasziniert, anders kann man es nicht beschreiben . . . Mir war dieser Stein eher unheimlich, mit den Knochen und dem ganzen Unrat rundherum. Ich wollte unbedingt wieder nach oben gehen, habe damit gedroht, alles unseren Eltern zu erzählen, doch er wollte nicht auf mich hören. Wir haben uns beinahe geprügelt, und als es ihm zu viel wurde, hat er mir an den Kopf geworfen: >Wenn du unbedingt zurückgehen willst, bitte schön, sieh doch zu, wie du allein den Weg findest!<« Er schaltete die Taschenlampe aus und ich hörte, wie er wegging und dabei lachte. Ich habe
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