Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der magische Reif

Der magische Reif

Titel: Der magische Reif Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillaume Prévost
Vom Netzwerk:
Sekunden länger aufrecht zu halten. Würde es reichen, um hier herauszukommen und wieder frei atmen zu können?
    Er öffnete die Augen. Das Haus hatte sich in eine unendliche Vielzahl von Grüntönen gefärbt, mit großen smaragdgrünen Garben, die wie schwerelos in der Luft zu hängen schienen. Die Möbel im Wohnzimmer waren wie dunkle Flecke, der Flur zu den Schlafzimmern sah aus wie ein Straßentunnel und die erstarrten Rauchwirbel zeichneten eine sturmgepeitschte Meeresoberfläche an die Decke.
    Langsam, sich mit den Oberschenkeln am Treppengeländer abstützend, um nicht zu fallen, ging Sam die Treppe hinunter. Bald stand er vor dem erstarrten Flammenmeer, das jedoch immer noch eine erstickende Hitze ausstrahlte. Er legte die Decke, die er immer noch bei sich trug, über seinen und Lilis Kopf und ging mit angehaltenem Atem ins Feuer hinein. Fünf oder sechs Meter, maximal sieben, waren es bis zum Fenster . . . Von der Außenwelt nahm er so gut wie nichts mehr wahr, nur die Hitze im Raum und das Gefühl, durch eine Mikrowelle geschoben zu werden. Am schlimmsten war jedoch, was sich in ihm selbst abspielte ... Es kostete ihn übermenschliche Anstrengung, seinen Puls im Rhythmus mit dem des Sonnensteins zu halten: Sein Herzmuskel steckte in einem Schraubstock, der sich immer enger zog, womit das Gefühl mit jeder Sekunde unerträglicher wurde. Der Schmerz begann bereits, in seinen Hals und seinen linken Arm auszustrahlen, und sein Gehirn musste gegen die Versuchung ankämpfen, einfach alles loszulassen. Aber er musste Lili um jeden Preis beschützen. Und dieser Gedanke führte ihn, ungeachtet aller Schmerzen, wie ein kleiner Leuchtturm durch die Nacht auf den sicheren Hafen zu.
    Er setzte seinen Weg durch das reglose Flammenmeer fort und stellte erleichtert fest, dass seine Intuition richtig gewesen war: Die Hitze blieb zwar, doch das Feuer war zu träge, ihn im Vorbeigehen zu erfassen. So durchquerte er die Eingangshalle, während seine Brust zu zerspringen drohte, fühlte den Teppich des Wohnzimmers unter seinen Füßen, stolperte last über die Sofakante, wandte sich dann nach links, musste jedoch auf der Höhe des Zeitungsständers abrupt innehalten. Irgendetwas in seinem Brustkorb klemmte ... Es hatte nichts mehr mit diesem Schmerz zu tun, es war wie eine Art Kurzschluss, der seinen ganzen Oberkörper lähmte und das Herz zum Stillstand zu bringen drohte. Wenn er nicht sofort damit aufhörte, die Zeit anzuhalten, würde unweigerlich das Schlimmste passieren. Andererseits blieben nur noch knapp zwei Meter bis zum Fenster und Lili hing noch immer bewusstlos über seiner Schulter. Wenn seine Konzentration jetzt nachließe, würden die verheerenden Flammen mit voller Wucht wieder ausbrechen und sie beide verschlingen. Nur noch zwei Meter . . .
    Mit einem Schrei riss Samuel sich aus seinem Schmerz und warf sich in einem Ausbruch unbändiger Wut nach vorn. Er schaffte einen Schritt, dann zwei und spürte, wie sich alles in ihm aufbäumte, als er den dritten machen wollte. Dann wusste er, dass ihm sein Körper nicht mehr gehorchen würde. Wie aus weiter Ferne hörte er das klackende Geräusch, mit dem die Zeit wieder das gewohnte Tempo aufnahm, und fast gleichzeitig nahm er den letzten Schlag seines Herzens wahr, unendlich lang, unendlich süß, wie eine endgültige Befreiung. Es wurde schwarz um ihn, er schlug vornüber mit dem Kopf zuerst auf den Boden und spürte nicht mehr, wie Lilis Gewicht sich auf ihn senkte.
    Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

 
23.
    Tante Evelyn
     
    Der Tod war wie ein Fischtraum ... ein flüssiges Universum, warm und friedlich, in dem Sam sich vollkommen mühelos bewegen konnte. Er glitt einfach dahin, befreit von der Last der Schwerkraft, befreit von den tausend Schmerzen, die er in seinem irdischen Dasein hatte erleiden müssen. Es war eine flüssige Welt, die ihn jetzt umgab und nur aus dem sanften Fließen und Rauschen des Wassers bestand . . . Wobei da immer noch diese Stimmen waren, weit, weit weg, die aus unendlicher Entfernung verzerrt zu ihm drangen – die unüberwindbare Unendlichkeit, die ihn vom Leben trennte? —, die immer noch vom anderen Ufer her nach ihm riefen. Und da waren immer noch diese Hände, die sich auf seiner Haut zu schaffen machten, auf der Suche nach einem letzten Atemzug oder einem Funken von Bewusstsein. Dazu diese Lampen -oder eher Lichter -, die wie farbige Sterne vor dem schwarzen Himmel kreisten. Doch Sam schwamm von nun an anderswohin, von

Weitere Kostenlose Bücher