Der magische Reiter reiter1
Armen ihrer Mutter umschlungen dagesessen hatte, und sie glaubte noch einmal die Worte zu hören. »Erzähl mir von Laur’lyn, Mama. Erzähl mir noch mal von ihr.« Auf diese Bitte hin hatte Mutter freundlich gelächelt. »Vielleicht wirst du eines Tages dein eigenes Schloss aus diesen Mondstrahlen bauen, Kari.« Und die Geschichte wurde wiederholt, bis sie in Schlaf versank.
»Habe ich dich traurig gemacht?« Ein Ausdruck von Bestürzung huschte über Miss Bunchberrys Gesicht. »Quält dich etwas?«
Karigan wischte eine Träne fort. Ja, und ja. Laut sagte sie: »Mir geht’s gut.«
Die Gerüche von Gänsebraten und gebackenem Brot zogen durchs Haus und erinnerten sie an das Fest zur Wintersonnwende: laute Musik, wilde Tänze und Getränke in Hülle und Fülle. Ihr Vater lud immer den Frachtmeister und seine Besatzung und alle näheren Verwandten des Clans G’ladheon ein. Ihre Mutter hielt dann über die Veranstaltung Hof, ein Element der Ruhe und Würde inmitten kunterbunter Ausgelassenheit. Ihre Mutter mit der hohen Stirn und dem vollen
braunen Haar, der Elternteil, den alle sogleich in Karigan wiederentdeckten.
Wieder traten ihr Tränen in die Augen, doch ihre wehmütigen Gedanken verflogen, als sie Miss Bayberry geziert am Kopfende eines unglaublich langen Tisches sitzen sah, der keinen Vergleich mit denen im Speiseraum in Selium zu scheuen brauchte. Das Silber war wieder in Gebrauch, und der Tisch quoll von Köstlichkeiten geradezu über. Karigan fragte sich, welchen Clan man wohl gebeten hatte, mit ihnen zu speisen.
»Bitte setz dich doch«, sagte Miss Bayberry.
Zum Glück waren die drei Gedecke an einem Ende der Tafel ausgebreitet worden statt an den beiden gegenüberliegenden. Sonst hätten sie einander anbrüllen müssen, um ein Gespräch zu führen.
Miss Bayberry ließ eine Stoffserviette auf ihren Schoß fallen. »F’ryan Coblebay konnte uns leider nicht Gesellschaft leisten, obwohl wir ihn natürlich eingeladen haben. Anscheinend kostet es ihn viel zu viel Kraft, mit dem Irdischen in Verbindung zu bleiben, und die möchte er sich für Zeiten aufsparen, in denen er ihrer wirklich bedarf.« Sie schniefte, um zu zeigen, wie sie dazu stand. »Pferd konnte uns ebenfalls nicht Gesellschaft leisten. Letitia ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn im Haus nicht duldet. Als Trostpflaster hat Rolph ihm erstklassigen Hafer und das allerbeste Heu gebracht.«
»Wie du siehst«, sagte Miss Bunchberry, »haben wir auf die Etikette geachtet. Letitia wollte uns nicht in der Küche dinieren lassen, obwohl Bay und ich dort gewöhnlich essen. Was für eine Freude es ist, Mutters alte Tafel wieder in Gebrauch zu sehen. Von Zeit zu Zeit schauten Verwandte oder frühere Kollegen unseres Vaters in Siebenschlot vorbei. Vorher
hat Letitia dann den ganzen Tag gekocht und gebacken. Was waren das für herrliche Zeiten.«
Gänsebraten und Sauce wurden herumgereicht, zusammen mit dem letzten Winterkürbis, Gemüse und Pilzen sowie süßem Kompott. Eine Scheibe warmes Brot mit cremiger Honigbutter zerschmolz in Karigans Mund. Es war wie ein traditionelles Wintersonnwendfest, nur dass Frühling war. Miss Bayberry goss rhovanischen Rotwein in ihre Kelche, und Karigan konnte den Jahrgang nur erahnen.
Es war, als verbrächte man den Abend mit zwei altjüngferlichen Tanten, die zwar etwas überspannt waren, aber Behagen und ein Gefühl für Häuslichkeit verbreiten. Der wohldosierte Scharfsinn, den Karigan zuvor wahrgenommen hatte, schien zu verfliegen, als der Abend länger wurde und die Weinflaschen die Runde machten.
Als sie nichts mehr essen konnten, zogen sie in den Salon um, wo schon Gläser mit Brandy auf sie warteten und das Feuer so munter wie eh und je im Ofen prasselte. Karigan ließ sich, das Glas in der Hand, auf das Sofa sinken, in dessen Armlehnen die Kolibris geschnitzt waren, und erzählte Geschichten von Selium. Bunch und Bay wölbten die Augenbrauen, als sie erfuhren, dass man die heißen Quellen direkt in den Badezuber pumpen konnte.
»Es ist schon so lange her, dass wir in Selium gelebt haben«, sagte Miss Bayberry. »Ich glaube, die Hälfte der Schulgebäude und Museen, die du uns geschildert hast, gab es damals noch gar nicht. Ansonsten hat die Stadt sich nicht sehr verändert.« Sie schwenkte den Brandy in ihrem Glas und lächelte selbstzufrieden. »Kind, du hast dieses Haus an einem Tag mehr mit Leben erfüllt, als wir das in Jahren vermochten. Meine Schwester und ich werden uns noch lange an
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